Die Qual der Wahl
Gefühlt schon seit Jahren steht sie da. „Mama Africa“, wie ich sie insgeheim nenne, mit großem Respekt und stiller Bewunderung: wie sie an der Ampelkreuzung an Dortmunds meistbefahrener Straße den vorbeirauschenden Autos unverdrossen ihr Schild entgegenstreckt: „Jesus rettet“. Wann immer die Ampel auf Grün springt, winkt sie unbekümmert all denen zu, die doch im selben Moment schon an ihr vorbeigezogen sind auf ihrer je eigenen Bahn. - Eine ungewöhnliche Demo mit einem gewöhnungsbedürftigen Slogan: „Jesus rettet“. Straßenmission für einen Augen-Blick, und es ist fraglich, ob der Blick der Vorbeifahrenden auch nur für einen Sekundenbruchteil an ihr und ihrer Botschaft hängenbleibt, geschweige denn weiterwirkt.
Auch wenn es nicht jedermanns Sache ist, so plakativ für die eigenen Ideale, Werte und Überzeugungen zu werben: Die Frage stellt sich gleichwohl: Wofür stehe ich? Stehe ich für meine Überzeugung ein, auch wenn andere nichts davon wissen wollen, aggressiv dagegenhalten oder die Selbstdarstellung mit einem mitleidigen Lächeln quittieren? Die Kandidatinnen und Kandidaten, die in dem zurückliegenden Kommunalwahlkampf „Gesicht“ gezeigt haben und öffentlich, auch plakativ für ihre Positionen eingestanden sind, verdienen jedenfalls Respekt, unbeschadet der jeweiligen politischen Richtung.
Als ich kürzlich wieder einmal an jener besagten Ampelkreuzung vorbeikam, musste ich sie erst suchen, jene liebenswürdige Demonstrantin. Diesmal war sie nicht an ihrem angestammten Platz an der Stadtbahn-Haltestelle, sondern hatte die Seite gewechselt. Dort, wo Dortmunds OB-Kandidaten von großflächig aufgestellten Plakatwänden auf die vorbeifahrenden Autos herabschauten, stand „Mama Africa“ und ihrer Botschaft: „Jesus rettet“. Was für ein Kontrast! Ich musste über die Doppeldeutigkeit ihrer Botschaft schmunzeln, als ich schon längst an ihr vorbeigefahren war. Mit ihrem kleinen Schild zwischen den großen Wahlplakaten kam sie mir vor wie eine lebendige Mahnung an alle Vorbeifahrenden, die richtige Wahl zu treffen – eine Wahl für das Wohl der Stadt, aber auch für das eigene Leben. Denn was im Letzten trägt und hilft (ja, auch rettet), entscheidet sich nicht an der Wahlurne; das geht es letztlich um eine je persönlichen Richtungsentscheidung. Insofern mag der Appell auch den Kandidatinnen und Kandidaten selbst gegolten haben, die gestern zur Wahl standen. Die eindringliche und auch tröstliche Botschaft: So politisch bedeutsam der Wahlkampf auch gewesen sein mag, und egal, wie die Wahl ausgegangen ist, wer gewonnen oder verloren hat: Es gibt noch etwas Wichtigeres im Leben.