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Hören, um zu fühlen

Kolumne

„Wer nicht hören will, muss fühlen.“ So kennen wir den Erziehungsgrundsatz unserer Altvorderen, mit dem ungehörigen Kindern oft fühl- und spürbar die Meinung gegeigt wurde. Die Zeit körperlicher Züchtigung ist – Gottlob! – vorbei. Aber funktioniert deswegen schon demonstratives Weghören bei unliebsamen Themen und mutwilliges Überhören unangenehmer Wahrheiten?

Auf dem Handy lassen sich unwillkommene Botschaften mit einem einzigen Klick wegdrücken, und wem das Fernsehprogramm in der virtuellen Welt nicht passt, der wechselt einfach den Kanal. Aber in der wirklichen Welt funktioniert das nicht. Da lässt sich das, was ist, nicht einfach leugnen oder ausblenden. Was verdrängt wird, kommt wieder und meldet sich oft umso nachhaltiger zurück. Dann rächt es sich, wenn man den Kopf in den Sand steckt und den Tatsachen nicht ins Auge blickt.

Lebenskunst – im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben – fordert genau das Gegenteil: Hinschauen statt wegsehen. Wahrnehmen, was ist. Hören, um zu verstehen! Das mag mühsam und anstrengend sein, manchmal auch unangenehm. Aber es ist die Voraussetzung, um handeln zu können und initiativ zu werden – agieren statt re-agieren.

Der „Hörende“, eine Bronzeskulptur der Münsteraner Künstlerin Hilde Schürk-Frisch im Eingang der Kommende Dortmund, ist daher mehr als nur ein dekoratives Element. Der doppelte Gestus des konzentrierten Hinhörens wie des tatkräftigen Ausschreitens hat programmatischen Charakter.

Hilde Schürk-Frisch hat sich ein Leben lang mit der schweigend-horchsamen Existenz des Hörenden beschäftigt. Den Wanderstab in der ausgestreckten Rechten, die linke Hand als Verstärker an die Ohrmuschel gelegt, verkörpert er den Prototyp des hörenden, zum Aufbruch bereiten Menschen. „Worauf sollen wir hören?“ – „Wohin sollen wir gehen?“ – „Wohin geht die Reise?“ Fragen, die sehr modern klingen. Bedrängend für viele, die unsicher geworden sind, müde oder lustlos, die die Orientierung ihres Lebensweges verloren oder die Suche danach aufgegeben haben.

Und es gibt zu viele, die einfach drauflos marschieren, getreu der inhaltslosen Devise: „Der Weg ist das Ziel“. – Nein, das Ziel ist das Ziel, und es bedarf großer innerer Anstrengung, hineinzuhören in das Schweigen, hinauszuschauen in das Dunkel. Ausstehen, warten, fragen nach dem, was Gott will – in der Bereitschaft, auch Unmögliches zu wagen, den Weg zu gehen, den Gott uns gehen heißt.

„Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit“ (Ignatius von Loyola), und nur wer die Wirklichkeit wahr- und annimmt, kann sie gestalten und ist in der Lage, die Welt zu verändern. Hören, um zu fühlen. Fühlen, um zu handeln. Der „Hörende“ ist Auftrag und Mahnung zugleich: aufnahmebereit zu sein, handlungsfähig bleiben, auch bei unliebsamen Themen und unangenehmen Wahrheiten. Wer hören will, muss fühlen – und sich führen lassen, im Vertrauen auf den, der ihn vorwärts weist.

(erschienen in K-Punkt)