| Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben - Festschrift für Ingeborg G. Gabriel

Epochenwandel. Auf der Suche nach einer neuen Erzählung

Unter dem Stichwort „Epochenwandel“ (Papst Franziskus) geht der Direktor der Kommende Dortmund der Frage nach, auf welcher Grundlage in der gegenwärtig zerrissenen Welt ein gemeinsamer Weg der Weltgemeinschaft zur Lösung der aktuellen Krisen möglich wäre. Der folgende Beitrag gibt stark gekürzt den Gedankengang eines ausführlichen Aufsatzes wieder. Die Langfassung mit Beispielen und Erläuterungen sowie Literaturhinweisen ist in der Festschrift für die Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel erschienen: Irene Klissenbauer u.a. (Hg.), Menschenrechte und Gerechtigkeit als bleibende Aufgaben. Die Festschrift ist in den Vandenhoeck-Ruprecht Verlagen erschienen.

 

1. Auflösung milieugestützter Lebenswelten

In unseren Zeiten dagegen zeigt sich eine Grundskepsis nicht primär gegenüber dem Alten, Gewohnten, Bewährten, sondern gegenüber allem Neuen, Anderen, Fremden, wohl aus einem Gefühl der Unbehaustheit heraus in einer globalen, digitalisierten Welt, die immer unübersichtlicher, uneinsehbarer, unbeherrschbarer wird. Menschen fühlen sich als vermeintliche Opfer einer Globalisierung, die auf allen Gebieten in die Privatsphäre hineingreift und zu Verunsicherung und Identitätsverlust führt. Die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung gestatten zwar weltweite Kommunikation in Echtzeit, die aber exponentiell als Einwegkommunikation erfahren und genutzt wird: das Internet als Echoraum der eigenen Vorurteile, ein Medium der Selbstexploration. Da ist keiner, auf den man hören, dem man zustimmen oder widersprechen müsste oder den man überhaupt überzeugen wollte.

Auf der Institutionenebene führt diese Haltung zu Partikularismus und Gruppenegoismus, zu Populismus und Nationalismus ... - längst überwunden geglaubte Sammlungsbewegungen, die in der gegenwärtigen Weltlage wieder Konjunktur haben. Verlässliche Politik, die auf langfristige Partnerschaften und Bündnisse setzt, wird dem kurzfristigen (Schein)Erfolg geopfert. An die Stelle einer gemeinwohlorientierten Verantwortungsethik tritt die eigenwohlfokussierte Pokermentalität der „Dealmaker“. Der Typus der machtbewussten, rücksichtslosen und erfolgsversessenen Leitfiguren findet seine Bewunderer, Anhänger, Nachahmer – und Wähler! Er wird stilprägend für die (Un)Kultur der Gesellschaft.

Indem die Opfermentalität der eigenen Klientel stilisiert wird, legitimiert sich auch der Politikstil einer neuen Rücksichtslosigkeit, auf „alternativen Fakten“ beruhend und nicht wahrhaben wollend, was wahrgenommen werden könnte – und müsste (!), um aber umso dominanter und brutaler die eigenen Interessen durchzusetzen. In all dem artikuliert sich eine neue Form der Arroganz, die sich über alles erhebt, was nicht der eigenen Weltdeutung entspricht, was auf gesellschaftlicher Ebene schließlich zur Spaltung und Atomisierung, letztlich zum Demokratieverlust führt.

Angesichts solcher spalterischen und zersetzenden Phänomene und Tendenzen braucht es in einer pluralistischen (Welt-)Gesellschaft Menschen, Organisationen und Institutionen, die sich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen: die nicht aus- und abgrenzen, sondern einbinden, vernetzen, versöhnen: FÜR‑Sprecher für das ethische Fundament gelingender Demokratie, für die Akzeptanz grundlegender Maßstäbe, Normen und Werte, die eine tendenziell gemeinsame Vorstellung von der Freiheit und ihrer Kostbarkeit haben, vom Inhalt und Umfang von Gerechtigkeit, vom Wert und der Notwendigkeit von Solidarität, gemeinsamer oder wenigstens verwandter Vorstellungen von sinnvollem und gutem Leben, von der Würde jedes Menschen, von der Integrität der Person, von Respekt und Toleranz, von Anstand und Fairness.

 

2. Regressive Tendenzen einer Wohlfühlgesellschaft

Vielleicht ist das die Tragik unserer Zeit, dass wir noch nie so viel und so gut kommunizieren konnten – und zugleich verlernt haben, uns konstruktiv und ergebnisoffen auseinanderzusetzen mit dem, der anders denkt, anders lebt, anders handelt – eben weil er anders ist. Und wo nur noch monologisch die je eigenen Ansichten, Meinungen und Vorurteile in die Welt hinausposaunt werden. Die Perspektive des Ganzen, des Gemeinwohls ist abhandengekommen, damit auch die Bereitschaft und Fähigkeit zum Dialog, zum Kompromiss, zum Konsens. Für die Demokratie ist solcher Rückzug auf das Eigene eine gefährliche Entwicklung. Erinnert sei an die berühmte Schrift „Über die Demokratie in Amerika“ von Alexis de Tocqueville von 1835:

„Uninteressierte Bürger, ein Volk von Händlern, nicht mit dem Gemeinwohl beschäftigt, sondern mit sich selbst. Je stärker der Wohlstand steigt, umso unpolitischer die Menschen. Und je unbegrenzter der Liberalismus schaltet und waltet, umso blasser das politische Bewusstsein der Bürger. Am Ende, so prophezeite Tocqueville, werde die Demokratie ausgehöhlt sein. Die Bürger verzichteten auf ihre Beteiligung, und der Staat wandelt sich zu einer alles erfassenden Wohlfühldiktatur, ästhetisch egalitär, politisch totalitär und bestechend smart.“

Das klingt wie eine Parabel auf unsere heutige Wohlfühlgesellschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist.

 

3. Größe und Grenze gesellschaftlicher Aufbrüche

Es war der französische Philosoph Jean‑François Lyotard, der radikal mit der Vorstellung aufräumte, in einem Zeitalter der verbindlichen Erzählungen zu leben. An die Stelle des Aufklärungsmythos von der Selbstbefreiung des Individuums (Kant) bzw. der Erzählung vom allmählichen Zu‑sich‑selbst‑kommen des Geistes als Ziel der Geschichte (Hegel), so Lyotard, treten mit dem Anbruch der Moderne die wissenschaftlichen Beweisführungen und der Positivismus.

Blickt man auf die jüngere deutsche europäische Geschichte lassen sich durchaus tragfähige Erzählungen von gesellschaftsrelevanter und identitätsstiftender Macht ausgemachen. An ihnen lassen sich aber aber die Grenzen solcher Narrative ablesen, wenn unsolidarisches und eigennütziges Verhalten sie zerstören.

 

„Nie wieder Krieg!“ Wirtschaftsentwicklung als Friedenssicherung

Es war ein geschichtlicher Kairos, als im Nachkriegseuropa mit Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer christlich inspirierte Politiker den Weg zum dauerhaften Frieden erkannten. „Das Nie-wieder-Krieg, der Gründungsnarrativ der Europäischen Union, brauchte keinen Legitimierungsausweis. Es wurde verstanden und als Leitmotiv bis in die jüngste Vergangenheit transportiert.“ (Alexander Görlach) Doch mit zunehmender wirtschaftlicher Prosperität verblasst der Wert der Friedensdividende. An die Stelle gemeinsamen solidarischen Handelns treten schleichend Kosten-Nutzen-Überlegungen einzelner Mitgliedstaaten - bis hin zum ökonomistisch und nationalistisch motivierten Austritt. Ende eines Narrativs.

 

„Wir sind das Volk!“ - Der Ruf nach Freiheit und Einheit

Auch die deutsche (Wiedervereinigungs-)Geschichte ist von einem Narrativ getragen. Die Erinnerung ist noch lebendig: etwa die Montagsdemonstrationen in Leipzig, die ihren Ausgang bezeichnenderweise in den Kirchen nahmen, als ein letzter Ort der Freiheit im sozialistischen System. „Wir sind das Volk“. Und was war das für eine emotionale Begeisterung, als 1989 die Berliner Mauer fiel! Eine Sternstunde deutsch-deutscher Begegnungs- und Willkommenskultur, als die Vision eines „einigen Vaterlandes“ die Herzen der Menschen wärmen konnte und die Spaltung eines Landes, ja des ganzen europäischen Kontinents überwunden schien. Heute erleben sich die Freiheitskämpfer von einst als lästige arme Verwandtschaft im Osten, die sich mit den Brotkrumen sozialer Wohltaten zufriedengeben muss. In der Folge findet ein Rückzug in die Nostalgie und Resignation statt, zu Protest und Demokratieverlust. Ende eines Narrativs.

 

„Alle Menschen werden Brüder“ – Überwindung der Teilung Europas

Auch auf europäischer Ebene wirkte diese Aufbruchsstimmung der deutschen Wiedervereinigung wie ein völkerverbindendes Narrativ. Für einen Moment wurde wahr, was unter den Klängen von Beethovens Neunter zur Europahymne mutierte: „Alle Menschen werden Brüder“, verbunden mit der Aussicht, dass Europa nunmehr „mit beiden Lungenflügeln atme“ (Johannes Paul II.). Dahinter stand die Überzeugung, dass der Aufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft auf der Grundlage des ethischen Prinzips der sozialen Gerechtigkeit erfolgen müsse, unter Wahrung der Balance zwischen Einheit und Freiheit. Heute kann die Europäische Union nur mühsam die fortbestehende Spaltung des Kontinents überdecken. Während die östlichen Transformationsländer die Respektierung der eigenen nationalen, religiösen, kulturellen Identität erwarten, vergiftet das Migrationsthema zusätzlich das Klima. Da ist es mit der „Ode an die Freude“ schnell vorbei. Ende eines Narrativs.

 

Willkommenskultur - Solidarität als identitätsstiftendes Momentum

Für ein kurzes Zeitfenster gab es – Jahre später – noch einmal eine große Welle der Solidarität und Mitmenschlichkeit, als im September 2015 eine Massenbewegung von Geflüchteten an die Grenzen Europas stießen und sich jenes Wunder der Willkommenskultur ereignete. Da überbot sich plötzlich eine Gesellschaft an Hilfsbereitschaft und Generosität, berauscht von der eigenen Weltoffenheit. Da genügt ein singuläres Ereignis von hoher Symbolkraft, wie es die Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2016 waren, und ein ganzes Land geht urplötzlich auf Abstand. So hat sich die euphorische Stimmung des Willkommens bald verflüchtigt und ist einer Stimmung fortgesetzter Mäkeleien gewichen, die sich in Pegida-Märschen und populistisch-nationalistischen Hetzparolen Bahn bricht. Auch hier: Ende eines Narrativs.

 

Ist die Sehnsucht nach Sinn, nach Kohärenz und einem tragenden Grund also eine Illusion? Wenn man auf die jüngere Geschichte in Europa schaut, fanden die großen geschichtlichen Aufbrüche und Bewegungen immer unter dem Eindruck eines gemeinsam geteilten und getragenen Narrativs statt, die aber immer auch ihr Ende fanden, wenn Zweifel an der Sinnhaftigkeit im Konkreten aufkamen. Doch „eine Welt ohne narrative Ordnung wäre eine Welt ohne Bedeutung, ohne politische Vision – und ohne Opfer für das Gemeinwohl.“ (so Ronald R. Krebs). Umso desillusionierender ist es, wenn eine Gesellschaft wieder in Einzelinteressen, Partikularismen, individuelle oder nationale Egoismen zerfällt.

 

5. Epochale Herausforderungen: Weltgemeinwohl als das neue Narrativ

„Wenn eine Weltordnung zusammenbricht, beginnt das Nachdenken darüber. Doch offenbar gilt das nicht für den heute vorherrschenden Typus der Gesellschaftstheorie, der in universalistischer Erhabenheit und schlafwandlerischer Sicherheit über den Niederungen des epochalen Wandels – Klimawandel, Finanzkrise, Krise der Demokratie und der nationalstaatlichen Institutionen – hinwegschwebt, [...] weil sie ausschließt, was zu beobachten ist: ein Paradigmenwechsel von Gesellschaft und Politik in der Moderne.“

Die alarmistische Analyse, die Ulrich Beck im Blick auf die Existenzkrise der Europäischen Union schon 2011 formuliert hat, dürfte sich angesichts der zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung noch verschärft haben. All das beschreibt, dass etwas zu Ende geht. Aber was soll kommen – oder ist schon im Werden? Wir haben es heute in der Tat mit einem epochalen Paradigmenwechsel in einem rasanten Tempo zu tun. Darauf rekurriert Beck mit seinem Konzept der Risikogesellschaft, denn

„im Gegensatz zum ersten Industriezeitalter der Moderne im 19. Jahrhundert sind diese Risiken nicht länger regional eingrenzbar und technisch beherrschbar. Neue technische Innovationen führen zu Risiken, die nicht mehr nationalstaatlich oder schichtspezifisch abgrenzbar sind. Sie entwickeln sich zu Globalgefährdungen, inklusiver neuartiger sozialer und politischer Dynamiken“. (Stefan Gschiegel)

Dementsprechend bedarf es auch globaler Anstrengungen, die großen Probleme der Menschheit gemeinsam anzugehen, so mühsam das ist. Es fehlt nicht an Einsichten, wohl aber an der Ernsthaftigkeit, nationalstaatliche Interessen zu überwinden und sich für die Lösung globaler Probleme einzusetzen. Angesichts der globalen Herausforderungen, wie etwa Klimawandel, Welternährung, atomare Abrüstung, Erhalt der Biodiversität, braucht es ein neues Narrativ, eine große Erzählung, die heute weltumspannend Menschen dazu bewegt, sich für das Weltgemeinwohl einzusetzen.

 

Natürlich ist da in erster Linie an die Vereinten Nationen zu denken, die der Weltgesellschaft etwa mit der UN‑Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (SDGs) ein „globales Narrativ“ (Dirk Messner) an die Hand gegeben haben. Aber internationale Konferenzen und Vereinbarungen bleiben seltsam blass und wirken technokratisch abgehoben. Es braucht vielmehr eine neue große Erzählung oder, etwas bescheidener, ein plausibles sinnstiftendes Narrativ, das die universalen Grundwerte transportiert und Emotionen bindet, ein gemeinsam geteiltes Bild von starker Strahlkraft, das Orientierung gibt, Kräfte bündelt, Zuversicht vermittelt und Menschen unterschiedlichster kultureller, sozialer, weltanschaulicher Prägungen hinter einer Idee versammelt. Doch der Trend ist ein anderer. Einstmals große Nationen berauschen sich nostalgisch am Glanz früherer Zeiten. Die dringende gemeinsame Verpflichtung, als Weltgemeinschaft auch globale Verantwortung für das Wohlergehen aller Menschen zu übernehmen, gerät ins Hintertreffen.

 

6. Global Leadership – Aufbau einer Kultur der Begegnung und der globalen Zivilisation des Bundes

 

Da bräuchte es eine moralische Autorität von Weltgeltung, die sich die Ziele des Weltgemeinwohls zu eigen macht und dazu in der Lage ist, weltweit Menschen und Nationen zu gemeinsamem Handeln zu bewegen. Insofern liegt es nahe, diesbezüglich an die Rolle der Religionen und ihre geistlichen Führer zu denken - und hier insbesondere an Papst Franziskus, das geistliche Oberhaupt von immerhin 1,3 Milliarden Katholiken, der sich mit seiner universalen Botschaft des Weltgemeinwohls nicht nur an die eigene Glaubensgemeinschaft wendet, sondern an die ganze Menschheitsfamilie wendet: „Der Epochenwandel, den wir erleben“, so der Papst, „ist keine Epoche des Wandels, sondern ein Epochenwandel“. Er fordert auf, „… mit allen gemeinsam die epochale Herausforderung zu überwinden, eine gemeinsame Kultur der Begegnung und eine globale Zivilisation des Bundes aufzubauen.“

Dazu bedarf es der Sammlung aller positiven Kräfte, die sich von diesem Narrativ, dem Ziel einer „globalen Zivilisation des Bundesinspirieren und bewegen lassen.

 

Dies wurde auf bemerkenswerte Weise deutlich, als sich Papst Franziskus mit seinem sozial‑ökologischen Ansatz an die Weltgemeinschaft wandte und dazu mahnte, „dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.“ (Laudato Si‘, 49). Teilnehmer der Weltklimakonferenz 2015 in Paris gaben zu Protokoll, dass das Päpstliche Schreiben das meistdiskutierte Hintergrundpapier auf dem UN‑Gipfel war und die Schlusserklärung maßgeblich beeinflusst hat. Dabei präsentiert der Papst der Weltgemeinschaft nicht selbsterdachte Ziele, sondern nimmt Maß am Schöpfungsauftrag des Menschen: dazu „berufen, die Werkzeuge Gottes des Vaters zu sein, damit unser Planet das sei, was Er sich erträumte, als Er ihn erschuf, und seinem Plan des Friedens, der Schönheit und der Fülle entspreche“ (LS 53), verbunden mit der nüchternen Erkenntnis:

„Das Problem ist, dass wir noch nicht über die Kultur verfügen, die es braucht, um dieser Krise entgegenzutreten. Es ist notwendig, leaderships zu bilden, die Wege aufzeigen, indem sie versuchen, die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generationen unter Einbeziehung aller zu berücksichtigen, ohne die kommenden Generationen zu beeinträchtigen.“ (LS 53).

Als global leader sucht Papst Franziskus im Sinne seiner Programmatik des Weltgemeinwohls den Kontakt und die Nähe zu anderen charismatischen Religionsführern in dem Anliegen, unbeschadet der Vertiefung des ökumenischen und interreligiösen Dialogs auf die Nöte der Menschen aufmerksam zu machen und „Allianzen zu bilden, die in der Lage sind, Räume der Aufnahme, des Schutzes, der Förderung und Integration zu eröffnen, Räume also, in denen Würde möglich ist.“ Weltweite Beachtung fand sein unprätentiöses Eintreten für Migranten, als er zusammen mit anderen Kirchen- bzw. Religionsführern Flüchtlingslager auf Lampedusa, auf Lesbos oder in Jordanien besuchte und der Weltgemeinschaft eindringlich ins Gewissen redete:

„Es ist eine Wunde, die zum Himmel schreit. Deshalb wollen wir nicht, dass die Gleichgültigkeit und das Schweigen unsere Antwort darauf seien (vgl. Ex 3,7). Besonders angesichts der vielen Millionen Flüchtlinge und anderer zur Migration Gezwungener, die internationalen Schutz suchen, ganz zu schweigen von den Opfern des Menschenhandels und neuer Formen der Sklaverei durch kriminelle Organisationen. Niemand kann diesem Leid gleichgültig gegenüberstehen.“ (Caritas Ansprache in Rabat am 30. März 2019)

Als moralische Autorität mit Weltgeltung ist Papst Franziskus ein bevorzugter Partner der Vereinten Nationen. Gleichzeitig ist der Vatikan auch eine Top‑Adresse, um Politiker und Wirtschaftsführer aus aller Welt auf ethisch verantwortliche Formen des Wirtschaftens zu verpflichten. In dem historischen „Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“ (Abu Dhabi, 04.02.2019) bringt Papst Franziskus zusammen mit dem Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al‑Tayyeb seine Hoffnung zum Ausdruck,

„dass diese Erklärung eine Einladung zur Versöhnung und zur Brüderlichkeit unter allen Glaubenden, besser noch unter Glaubenden und Nichtglaubenden sowie unter allen Menschen guten Willens;

dass sie ein Aufruf sei an jedes wache Gewissen, das sich von der abweichenden Gewalt und dem blinden Extremismus lossagt; ein Aufruf an den, der die Werte der Toleranz und Brüderlichkeit, die von den Religionen gefördert und unterstützt werden, liebt;

dass sie ein Zeugnis für die Größe des Glaubens an Gott sei, der die getrennten Herzen eint und den menschlichen Geist erhebt;

dass sie ein Symbol für die Umarmung zwischen Ost und West, Nord und Süd sowie zwischen allen, die glauben, dass Gott uns erschaffen hat, damit wir uns kennen, unter uns zusammenarbeiten und als Brüder und Schwestern leben, die sich lieben.

Das hoffen und suchen wir zu verwirklichen, um einen universalen Frieden zu erreichen, den alle Menschen in diesem Leben genießen können.“

Leben für eine „globale Zivilisation des Bundes“: Es ist der Beginn einer neuen Erzählung von religiöser Kraft: in der Bereitschaft zur Übernahme globaler Weltverantwortung - damit die Menschheit eine Zukunft hat.