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Pfarrgemeinde als ein Ort der Caritas

Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?“, so fragte Gerhard Lohfink in seinem 1982 erschienenen Buch „zur gesellschaftlichen Dimension des Glaubens“, und er gab auch gleich die Antwort: „Die entscheidende Aufgabe der Kirche ist also , dass sie sich als Kontrastgesellschaft zur Welt aufbaut, als Herrschaftsraum Christi, in welchem die Bruderliebe Lebensgesetz ist.“ (1)

Die Frage der Verortung der Caritas in der Gemeinde stellt sich, und das mag vielleicht überraschen, als ein Thema der Gemeindetheologie dar. „Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von seinem Besitz sein eigen, sondern sie hatten alles gemeinsam.“ (Apg 4,32). So jedenfalls das idealisierte Gemeindebild in der Apostelgeschichte. Aber wie ist in der Gemeinde die Liebe – agape/caritas - lebendig, die die Güter kreisen und die Gemeinde affektiv und effektiv eins sein lässt? Das lässt zwar bewundernd Ausschau halten nach der Stadt auf dem Berg (Mt 5,14), aber schon das Bild vom Salz der Erde (Mt 5,13), das Jesus seinen seliggepriesenen Zuhörern entgegenhält, ist eine Absage an eine weltabgeschottete Exklusiv-Gemeinde. Das Bildwort vom Sauerteig, unter einen großen Trog Mehl gemischt, der das Ganze durchsäuert, (vgl. Mt 13,33; Lk 13,20), weist hin auf die Wachstumsdynamik des Reiches Gottes. Dem Reich Gottes, bereits mitten unter den Seinen gegenwärtig (vgl. Lk. 17,10), ist es eigen sich auszubreiten – natürlich in der Liebe, die sich nicht auf einige Brüder und Schwestern eingrenzen lässt. Wie also hat Jesus Gemeinde gewollt?

1. Das Ideal: Gemeinde als Praxisfeld tätiger Nächstenliebe

Die Jüngergemeinde Jesu bis hin zur heutigen Pfarrgemeinde oder Seelsorgeeinheit – eine Kontrastgesellschaft? Gegen eine Theologie des Heilsindividualismus‘ setzt Lohfink im Rekurs auf die neutestamentlichen und frühchristlichen Schriften die gemeinschaftliche Dimension des Glaubens: „den Raum des Miteinander, den Raum der Gemeinde“ (2), an dem sich entsprechend dem jesuanischen Gebot der gegenseitigen Liebe authentisches Christsein vollzieht , in Anlehnung an das Wort aus dem Römerbrief: „Bleibt niemandem etwas schuldig außer der gegenseitigen Liebe“ (Röm 13,8).

Das Gebot der gegenseitigen Liebe konkurriert allerdings mit der nicht minder von Jesus autorisierten Forderung der Nächstenliebe, besonders zu den Armen und Geringsten (vgl. Mt 25, 31-46), und die macht natürlich nicht an den Grenzen der Gemeinde halt, wie ja auch Papst Benedikt XVI. unterstreicht: „Kirche als Familie Gottes muss heute wie gestern ein Ort der gegenseitigen Hilfe sein und zugleich ein Ort der Dienstbereitschaft für alle der Hilfe Bedürftigen, auch wenn diese nicht zur Kirche gehören.“ (DCE 32)

Damit spricht Papst Benedikt XVI. zugleich auch auf das Verhältnis von Innen und Außen, die Spannung von binnenkirchlicher Verpflichtung und universalem Heilsauftrag an. Liebe macht nicht Halt an den Grenzen der Gemeinde, denn die Kirche ist „Gottes Familie in der Welt“, in der es keine Notleidenden geben darf (DCE 25b). Mit anderen Worten: „Partikularität und Universalität, man könnte auch sagen, die Con-Solidarität und die Pro-Solidarität, verweisen aufeinander und gehören wie zwei Seiten einer Medaille zusammen.“ (3)

Gleichwohl aber gibt es „unbeschadet dieser Universalität des Liebesgebotes … einen spezifisch kirchlichen Auftrag – eben den, dass in der Kirche selbst als einer Familie kein Kind Not leiden darf“ (DCE 25b). Darauf hatte schon Lohfink gepocht, der sich dagegen verwahrt, die Position Jesu „undifferenziert als universale Menschheitsliebe [zu] definieren“ . (4) Im Gegenteil. Nach dem Konzept seiner Gemeindetheologie behält „die ständige Entgrenzung der Bruderliebe … ihre Basis im Volk Gottes, das zunächst einmal in seinem Binnenraum lebt, was Nächstenliebe heißt. Gerade indem diese Basis beibehalten wird, kann dann die Grenze nach draußen ständig überschritten werden“. (5) Gemeinde also gewissermaßen die Basisstation für ggf. weitergehende Liebesbemühungen?

Damit tut sich eine erste Spannungseinheit auf, will man den Ort der Caritas in der Gemeinde näher bestimmen. Ist die Caritas der Gemeinde, so kann man fragen, demnach im Wesentlichen beschränkt auf die Caritas in der Gemeinde? Man darf dies durchaus zunächst einmal als einen „Markenkern“ der Jüngergemeinde Jesu anerkennen und positiv würdigen: Die Gemeinde lebt, wenn sie liebt: konkret, wo keiner Not leidet und alle alles gemeinsamen haben - idealtypisch „ein Herz und eine Seele“ (vgl. Apg 4,32ff).

Dabei ist anzumerken, dass dieses Neue Gebot der gegenseitigen Liebe – agape (vgl. Joh 13,34) - durchaus nicht auf eine materielle, soziale und diakonische Dimension beschränkt ist, sondern in einem umfassenden Sinn die bedingungslose gegenseitige Annahme um Christi willen meint, die zur Einheit in Christus führt, „damit die Welt glaubt…“ (Joh 17,21).

Natürlich hat ein solches Zeugnis der gegenseitigen Liebe im Leben der Jüngergemeinde, also auch der Pfarrgemeinde, wo man sich gegenseitig hilft und unterstützt, eine Leuchtturmfunktion (Mt 5,14) und besitzt insofern bereits missionarische Qualität. Darauf weist schon Tertullian hin, der den konstitutiven Zusammenhang von eucharistisch-geistlicher Verbundenheit, diakonischer Verpflichtung und missionarischer Ausstrahlung herausstellt: „Das Geheimnis der Eucharistie ist ein Geheimnis der Liebe, das uns selber in Pflicht nimmt. Die Gemeinschaft im Brechen des eucharistischen Brotes macht uns um so empfänglicher für die Not, den Hunger und die Leiden unserer Mitmenschen. Wenn wir von dem Brot essen, durch das Christus uns Leben schenkt von seinem göttlicher Leben, müssen auch wir bereit sein, unser Leben mit dem Mitbruder zu teilen. Wenn wir uns aus dieser Quelle der Liebe nähren, sind auch wir aufgerufen, nicht nur etwas zu geben, sondern uns selbst im Dienst am Nächsten hinzugeben. Die frühe christliche Gemeinde hat uns dies beispielhaft vorgelebt. Deshalb konnten die Heiden von diesen Christen voller Bewunderung sagen: ‚Seht, wie sie einander lieben!‘.” (6)

Caritas ist, darauf hat Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus Caritas Est eindrucksvoll hingewiesen, nicht Kür, sondern Pflicht, will die Kirche nicht ihren Grundauftrag verfehlen: „Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von Gottes Wort (kerygma-martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst der Liebe (diakonia). Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (DCE 25). Gelebte Agape/Caritas ist gewissermaßen das ekklesiologische Grunddatum für alle Dimensionen und Bereiche der Kirche, auch auf der Ebene der Pfarrgemeinde – idealtypisch jedenfalls. Daher kann die Kirche „den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und Wort“ (DCE 22). So jedenfalls ist die theologische Kernaussage des Papstes. Doch korrespondiert dieses Kirchenbild auch mit der Gemeindewirklichkeit? Schon Johannes Chrysostomos hatte da seine Zweifel: „Wie sollen sie [die Heiden] vom Glauben überzeugt werden? Durch Wunderzeichen? Wunder geschehen nicht mehr. Durch unser Verhalten? Das aber ist schlecht. Durch Liebe? Keine Spur davon ist zu sehen. Darum werden wir einst … auch über den Schaden Rechenschaft ablegen müssen, den wir angerichtet haben …“ (7) Im Ergebnis unterscheidet sich der bescheidene Befund, so fürchte ich, nicht allzu sehr von aktuellen Erhebungen wie etwa der jüngsten Sinus-Studie. Dabei soll nicht verhehlt werden, dass in den Gemeinden und darüber hinaus oft Großartiges geleistet wird, in der Gemeindeöffentlichkeit und noch mehr im Verborgenen. Aber dass wir uns in der Umsetzung des Liebesgebotes so schwer tun, sowohl im Binnenraum der Gemeinde wie erst recht darüber hinaus, ist natürlich nicht nur in der menschlichen Kontingenz begründet; dafür gibt es auch offenkundige „systemische“ Gründe, über die nachzudenken sich lohnte.

2. Die Krise: Gemeinde - Diakonieverlust in Zeiten der Transformation

Stellen wir also die Frage nach der Caritas-Tauglichkeit unserer Gemeinden heute, wobei hier natürlich nur einige grundsätzliche Überlegungen angestellt und keine pauschalen Urteile gefällt werden können. Caritas, so halten wir fest, gehört zum Grundauftrag der Kirche und ist jedem Teilsystem von Kirche, also auch der Pfarrgemeinde, der Kirche im pastoralen Raum, konstitutiv aufgetragen. Aber, so müssen wir weiter fragen: wie geht Caritas in der Gemeinde, wenn die Gemeinde selber in der Krise ist, und dies aus vielfältigen, oft schwer entwirrbaren und kaum lösbaren Gründen?

Binnengemeindliche Diaspora - Existenz

Es ist kein Geheimnis, dass sich die Kirche und insbesondere die Pfarrgemeinden Westeuropas in einem Transformationsprozess ungeahnten Ausmaßes befinden. Aufgrund von Gläubigen- und Priestermangel, aber auch Geldmangel fusionieren die traditionellen Gemeinden zu zunehmend anonymen Großraumgemeinden. Christen gehören nach wie vor zu einer Pfarrgemeinde, aber ihr unmittelbares Lebensumfeld in Nachbarschaft, Beruf, Freizeit etc. ist nicht mehr primär geprägt von der sprichwörtlichen „Kirche im Dorf“, sondern von einer zunehmend säkularen Gesellschaft. Christen leben nicht konzentriert an einem geistlichen Ort, sondern ausgedünnt in der Fläche, weit verstreut, und das heißt vereinzelt, in einem weithin postchristlichen Lebensumfeld. Kirche ist mittlerweile selbst zur Diaspora-Kirche geworden, fast überall. Da ist es dann schon ein Zufall, besser wohl Glücksfall, wenn man im normalen Lebensalltag auf einen „Kommilitonen“, d.h. ja „Mitstreiter“ aus der eigenen (oder einer anderen) Gemeinde trifft. „ Zur Signatur unserer Epoche am Anfang des 21. Jahrhunderts“, so Michael Sievernich, „gehören die ‚Zerstreuungen‘. Zunächst im spätmodernen Sinn einer Pluralisierung des religiösen Feldes und der ‚Streuungsbreite der kulturellen Antreffbarkeit des Religiösen‘ [Joachim Höhn].“ (8)

Es ist in der Regel eben nicht die „integrierte Gemeinde“ entschiedener Christen eines Gerhard Lohfink, in der man auch lebensräumlich zusammengezogen ist; wir haben mehr und mehr Verhältnisse, wie sie für das 2. Jhdt. im Diognetbrief beschrieben sind: Die Christen „leben in ihren Heimatländern, aber wie Fremde... Um es kurz zu machen: was die Seele im Leib ist, das sind die Christen in der Welt.“ (9) Christen als die Seele der Gesellschaft: Das ist zwar ein schönes Bild, aber für den einzelnen wie für die Gemeinde in ihrer Diaspora-Existenz schwer zu realisieren.

Der Zusammenhalt schwindet, und wer sich nicht kennt und wer sich nicht sieht, der bekommt auch nicht mit, was fehlt, woran es mangelt. Fehlende Nähe, man kann auch von zunehmender Anonymisierung sprechen, ist schlicht eine Herausforderung für eine Caritas des „sehenden Herzens“ (DCE 31).

Segmentierung in Teilbereiche und Pluralisierung der Lebensstile

Das Auseinanderbrechen einstmals überschaubarer, geschlossener Milieus hat mittlerweile auch die letzten noch intakten Teilsysteme der Kirche hierzulande erreicht, und mit der schleichenden Aushöhlung und dem Zerfasern des Gemeindelebens müssen auch die bis dato bewährte Organisation der Seelsorge und die Formate kirchlichen Handelns – auch der Caritas - den neuen Bedingungen angepasst werden.

Denn das Lebensgefühl der Menschen, mithin auch der Gemeindemitglieder, ist weithin bestimmt von der Individualisierung und Pluralisierung persönlicher Lebensstile und Lebensentscheidungen. Auch Mitglieder der Kerngemeinde stellen eigene Interpretationen des Kircheseins über die gesetzten Standards, so dass Gottesdienstbesuch und Sakramentenempfang wahlförmig geworden sind. Der Auswahlmentalität ihrer Mitglieder entspricht die Angebotsstruktur des gemeindlichen Selbstvollzugs. Gemeindemitglieder ändern ihre Glaubens- und Zugehörigkeitsstile zu Kirche und Gemeinde unabhängig von äußeren Vorgaben und definieren selbständig ihr sozial-caritatives Engagement: Zumindest für die Kerngemeinde gilt, noch, dass man „zur Kirche“ geht, aber nach je Disposition und persönlichem Geschmack (wann, wo…). Man schickt die Kinder, sofern diese das noch mitmachen, zur obligatorischen Erstkommunion- oder Firmkatechese. Man nimmt durchaus auch Bildungsangebote wahr und nimmt die sozialen Dienste in Anspruch, wenn man sie braucht, gerne auch vom katholischen Anbieter in der Gemeinde, wenn es sich ergibt und das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt, aber nicht unbedingt, weil es die kirchliche Einrichtung in der Gemeinde ist. Man setzt sich materiell oder auch eigenhändig für soziale Projekte ein und arbeitet in non profit-Initiativen mit. Aber dies ist nicht die Caritas der Gemeinde, sondern das caritative Engagement einzelner Christen (in der Gemeinde).

Der schwerste Verlust der Caritas in der Gemeinde, so können wir festhalten, ist der Verlust an Gemeinde, an gemeinschaftlichem Zusammenhalt. Natürlich gibt es Orte, Momente, Substrukturen, in denen Gemeindeglieder zusammenkommen: neben den verschiedenen Gottesdiensten sind dies (noch) Verbände und Vereine (allerdings in abnehmender Zahl, Dichte, Kohäsion), zeitlich befristete Projekte und Initiativen, gewählte Räte und themenspezifische Zusammenkünfte. Und natürlich gibt es auch diakonisches Engagement, aber es ist in das Belieben und Vermögen einzelner gestellt. Diakonie hat in der spätmodernen Pfarrgemeinde, so scheint es, keinen festen Platz (und oft auch keinen sichtbaren Ort), sondern ereignet sich bei Bedarf und organisiert sich je nach Angebot und Nachfrage. Damit haben wir es auch schon innerhalb der Gemeinde mit einem Marktgeschehen zu tun.

Qualitätsanforderungen und Wettbewerb

Der Zusammenhalt – koinonia - in der Gemeinde ist nicht nur von der zunehmenden Anonymität und Auswahlmentalität ihrer Mitglieder und dem Auseinanderfallen in Teilbereiche im Innern der Gemeinde bedroht. Ihr caritativer Dienst, immerhin ihr „Markenkern“, wird in der Gesellschaft als ein „Angebot“ unter vielen sozialen Dienstleistern wahrgenommen und muss sich auf dem Markt der Wohlfahrtspflege behaupten, die staatlich reguliert, kontrolliert und finanziert wird. Entsprechend müssen staatliche Auflagen und Vorgaben erfüllt, Qualitätsstandards eingehalten und sozial-caritative Leistungen dokumentiert und zertifiziert werden. Die notwendige Qualitätssicherung diakonischer Hilfe und die damit einher gehende Professionalisierung der Caritas erfasst zunehmend alle Bereiche des diakonischen Helfens, und dem Druck steigender Ökonomisierung auch auf dem Markt sozial-caritativer Dienste kann sich auch die Kirche immer weniger entziehen.

So führen gestiegene gesellschaftliche Anforderungen an die Qualität des Helfens und an die Qualifikation der Helfer in einem zunehmenden Wettbewerb auf einem lukrativen Gesundheitsmarkt notwendig zu einer Professionalisierung, Organisierung und Institutionalisierung der Caritas jenseits traditioneller Gemeindestrukturen. Man mag die systemische Verselbständigung der Caritas bedauern, insofern mit ihrem Auszug aus dem unmittelbaren Nahbereich gemeindlichen Lebens die diakonische Dimension in der Pfarrgemeinde an Prägekraft verliert. Andererseits sollte man froh sein, dass es der Kirche als ganzer, eben auf größerer Übersetzung (gemeindeübersteigend) gelungen ist, den diakonischen Grunddienst als Wesenselement von Kirche so kompetent, omnipräsent und hochgeschätzt in die Gesellschaft einzubringen - in qualitativer wie quantitativer Hinsicht.

Diese Entwicklung hat natürlich nicht erst dieser Tage eingesetzt, sondern ist ein Begleitphänomen des modernen Sozialstaats, im Grunde aber bereits im 19. Jahrhundert mit der Arbeiterbewegung (Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler in Mainz), den caritativen Frauen-Assoziationen und der Gründung des Caritasverbandes 1997 (Lorenz Werthmann in Köln) , um die drohende Zersplitterung der katholischen sozialen Hilfsangebote abzuwenden. „Seit dem 19. Jahrhundert gehört das organisierte Engagement der großen christlichen Kirchen zu den markantesten Kennzeichen des Christentums in der Moderne. Aus kleinen Anfängen von Caritaskreisen, caritativen Vereinen und Ordensgemeinschaften sind komplexe Organisationen geworden, die das Eintreten der Christen für Menschen in Notlagen auf Dauer gestellt und mit der notwendigen fachlichen Kompetenz verbunden haben.“ (10)

Die rd. 550.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas der katholischen Kirche in Deutschland dokumentieren eindrucksvoll den Anspruch der Kirche, die ihrem Wesen nach diakonisch ist; zählt man die rd. 450.000 Beschäftigten der Diakonie der evangelischen Landeskirchen hinzu, sind die Kirchen nach dem Staat der größte Arbeitgeber im Land. Dies muss natürlich auch im Bewusstsein der Dienstgemeinschaft aller Beteiligten grundgelegt sein, so dass solche kirchlichen Diakonie-Orte als solche bereits Kirchen-Orte sind, die auf die beiden anderen Grunddimensionen der Kirche - Leiturgia und Martyria - transparent sein müssen. Hier liegt für die organisierte Caritas eine große Herausforderung in der Zukunft.

3. Die Herausforderung: Gemeinde als Ort differenzierter Diakonie

Die notwendige Professionalisierung der Caritas darf gleichwohl nicht davon ablenken, dass auch auf der Ebene der Pfarrgemeinde die Herausforderung besteht, den Gemeindebezug der Caritas und gleichermaßen den Diakoniebezug der Gemeinde(mitglieder) sicherzustellen bzw. zu intensivieren. Wie dies auch unter erschwerten heutigen Bedingungen aussieht bzw. aussehen kann, soll hier wenigstens skizzenhaft angedeutet werden. (11)

Gemeindliche Alltagsdiakonie

Angesichts der oben skizzierten Herausforderungen, die zur Entwicklung, oft auch Verselbständigung der organisierten Caritas geführt haben, überrascht es nicht, wenn gemeinhin von einer „Entdiakonisierung der Gemeindepastoral“ die Rede ist, was in dieser pauschalen Kritik allerdings ungerecht und unzutreffend ist. Denn Pfarrgemeinden in Deutschland sind beileibe keine diakoniefreien Zonen, sondern entfalten im Gegenteil eine beachtliche Caritaspraxis – oft unbeachtet von der innergemeindlichen wie gesellschaftlichen Öffentlichkeit: selbstverständliche Alltagsdiakonie der Christen vor Ort.

Ob Besuchsdienste für Kranke, Senioren oder Gefangene, Selbsthilfegruppen für Alleinerziehende, arbeitslose oder behinderte Menschen, Mitarbeit in Stiftungen, Vereinen und Verbänden, der persönliche oder materielle Einsatz für soziale Projekte und Initiativen …: das ehrenamtliche Engagement der Christen ist schier unerschöpflich und wäre durch amtlich-verbandlich organisierte Caritas gar nicht zu leisten. Allein in den Caritas-Konferenzen im Erzbistum Paderborn sind rd. 20.000 ehrenamtliche Mitarbeiter/innen aktiv; der Caritas-Verband in Dortmund zählt rund 1.500 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: auch dies ein beredtes Zeugnis für die Lebendigkeit unserer oft schon totgesagten Lokalkirche.

Doch es ist nicht nur die unbeachtete Alltagsdiakonie oder die Mitarbeit in expliziten Projekten, die der Gemeindepastoral ein diakonisches Gesicht geben. Denn schon die Pfarrgemeinde an sich hat eine wichtige integrative Funktion. Sie ermöglicht Zugehörigkeit, lässt Heimat erfahren und beugt der Vereinsamung vor. In ihrem kirchlichen Selbstvollzug geschieht zugleich Lebensdeutung, oft an den Grenzen und in den Krisensituationen des Lebens. „Seelsorge bietet rituelle Diakonie in den biografischen Übergängen von Heirat und Geburt, in den Phasen des Familienzyklus zu Erstkommunion, Firmung oder Schulabschluss, vor allem aber in Krankheit, Sterben und Trauer. Sie hilft die Übergänge der Biografie, der Natur, des Kosmos als sinnhaltig zu erfahren. Ein beachtliches diakonisches Potential!“ (12)

Die Frage ist eher, warum diese oft unreflektierte und unprätentiös vollzogene Caritaspraxis nicht ausdrücklich Eingang in das Leitbild einer diakonischen Gemeindepastoral findet und explizit auf der Agenda von Pfarrgemeinderatssitzungen steht oder ihr eine Priorität in den Tagesabläufen der pastoralen Mitarbeiter eingeräumt wird. Denn „der Liebesdienst der Kirche ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern es gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Ausdruck ihrer selbst“ (DCE 25a).

Fragt man also nach den caritativen Defiziten und Schwachstellen im Gemeindekonzept unserer Tage, dann stößt man vermutlich alsbald auf das praktizierte Leitbild einer „aktiven Gemeinde“, was nur begrenzt caritaskompatibel ist. Darauf macht Konrad Baumgartner aufmerksam, wenn er moniert: „Gemeinde … spreche oft nur jene an, die aktivierbar sind. Sie suche Leute, die mitmachen, zu ihr passen und verschließe sich dadurch gerade gegenüber den Arbeitern, den unteren sozialen Schichten, den Fremden. Sie erwecke den Eindruck, die Menschen hätten sich dadurch in ihrem Christsein zu bewähren, dass sie mitsorgend etwas zum Gemeindeleben beitragen. Gemeinde werde damit zum Zweck und Letztziel des pastoralen Handelns umgedeutet.“ (13)

In Zeiten der Verknappung von Personal, Geld, Kraft und Ressourcen gibt es überdies die nicht minder caritasschwache Tendenz, sich auf das vermeintliche Kerngeschäft der Seelsorge zurückzuziehen: die liturgische und sakramentale Praxis. Kleriker könnten zu der irrigen Auffassung verleitet sein, das caritative Engagement besitze dem gegenüber lediglich Vorfeldcharakter, das man getrost auch den Laien und Ehrenamtlichen überlassen könne. So unzweifelhaft die Feier der Eucharistie „culmen et fons“ im Selbstvollzug der Kirche ist, so unstreitig ist der konstitutive Zusammenhang von Eucharistie und Diakonie: „Eucharistie, die nicht praktisches Liebeshandeln wird, ist in sich selbst fragmentiert“ (DCE 14). Agape / Caritas, die aus der innigsten Vereinigung mit Christus in der Eucharistie erwächst, ist gewissermaßen das Markenzeichen der Gemeinde – oder sollte es zumindest sein.

Diakonische Gemeindepastoral

Die Wurzeln der caritativen Arbeit liegen im ehrenamtlichen Engagement in den Pfarrgemeinden. Dort, wo sich Freiwillige unentgeltlich für Menschen in Not einsetzen, ist die Caritas mehr denn je als Teil der Kirche erkennbar und im Leben der Menschen präsent. „Als Aufgabe aller Christen ist Caritas eine Basisbewegung. Gemeinden und Einrichtungen der verbandlichen Caritas sind nicht vorstellbar ohne ehrenamtliches Engagement.“ (14) Baumgartner nennt insbesondere drei Motive für sozial-caritatives Ehrenamt, die von der Pfarrgemeinde wie von der verbandlichen Gemeinde gewürdigt und unterstützt werden müssen:

  • persönliche Wertüberzeugung: Ehrenamtliche in Gemeinden wie in der organisierten Caritas fühlen sich offensichtlich stark von den Schlüsseldimensionen eines christlichen Gottes- und Menschenbildes angesprochen, von Gottes- und Nächstenliebe, Achtung vor der Würde der Person, Helfen, Teilen, Solidarität, Vergebung, Gerechtigkeit, Ehrfurcht vor der Schöpfung, Hoffnung auf Vollendung, Vertrauen in die Zukunft.

  • kirchliche Bindung: Die innere Bindung an den Verband oder die Pfarrgemeinde und die gespürte Mitverantwortung für die dort mitlebenden Menschen veranlassen zum Mitmachen.

  • Selbstverwirklichung: Ehrenamtliche erwarten auch einen Zugewinn in ihrem Streben nach Selbstfindung und Erlebnisintensivierung. Dies ist nicht kritisieren, sondern als wertvolle Basismotivation den altruistischen Motiven gleichberechtigt zur Seite zu stellen. (15)

Daher sucht der Caritasverband gemeinsam mit den Pfarrgemeinden nach Wegen, zusammen mit den ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zur Solidarisierung der Menschen mit den Schwachen und Armen der Gesellschaft beizutragen. Der Fachdienst Gemeindecaritas , das hauptberufliche personelle Angebot des Caritasverbandes zur diakonischen Entwicklung in den pastoralen Räumen, versteht sich als Brücke zwischen ehrenamtlicher Caritas-Arbeit auf Gemeindeebene und der hauptamtlichen Arbeit im Caritasverband und begleitet, berät und unterstützt die Arbeit der verschiedenen Pfarrcaritas-Gruppen und Caritas-Konferenzen in den Pfarrgemeinden. Er weckt und fördert Solidarisierungsprozesse, begleitet und moderieret sie fachlich und entwickelt die erforderlichen Hilfsangebote. Schwerpunkte sind die Stärkung der caritativen Arbeit in den Pfarrgemeinden und Pastoralverbünden; Beratung, Information und Begleitung der Caritaskonferenzen und Seniorengemeinschaften in den Gemeinden sowie anderer sozial engagierter Gruppen; Mitarbeit bei der Planung und Durchführung von Projekten in den pastoralen Räumen; Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen für ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; Förderung des ehrenamtlichen Engagements im caritativen Bereich; Mitgliederwerbung und Mitgliederpflege; Mitarbeit in kirchlichen und kommunalen Gremien. (16) Der Fachdienst Gemeindecaritas greift, ganz allgemein gesprochen, Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft auf und nimmt Mitverantwortung der Kirche für die Gestaltung des Lebensraumes der Menschen wahr. (17)

Im Erzbistum Paderborn gibt es seit 2007 den Fachdienst Caritas-Koordination: Sozialarbeiter/-pädagogen, Theologen oder Religionspädagogen, die auf Dekanatsebene die Vernetzung von Caritas und anderen pastoralen Aufgaben darstellen und somit deutlich machen, dass caritatives Tun Bestandteil heilender Seelsorge und damit not-wendig Bestandteil der Pastoral ist. Im Einzelnen bieten die Koordinatoren für Caritas im Dekanat bieten folgende Unterstützung an:

  • Unterstützung, Planung und Begleitung einer Sozialraumanalyse. Die Sozialraumanalyse erfasst und umfasst u. a. die soziale Lage, Einkommenssituation, Arbeitslosenquote, Altersstruktur, soziale Einrichtungen und alle relevanten Fragestellungen zum jeweiligen Pastoralen Raum.

  • Unterstützung bei der Vernetzung mit Trägern im kirchlich – caritativen und sozialen Bereich verbunden mit der Nutzung der vorhandenen Ressourcen.

  • Sensibilisierung für soziale Themen (Armut, Migration, ...) und Menschen in sozialen Notlagen. Dazu kann z. B. auf die Erfahrungen und Erkenntnisse anderer Fachdienste und Fachverbände der Caritas zurückgegriffen werden.

  • Unterstützung und punktuelle Mitarbeit bei der Entwicklung von Strukturen für die Caritasarbeit in den pastoralen Räumen.

  • Förderung der Entwicklung von Caritaseinrichtungen zu pastoralen Orten.

  • Förderung des freiwilligen sozialen Engagements im Pastoralen Raum. Mögliche Themenbereiche sind: Alter, Krankheit und Demenz, Menschen mit Behinderung, Familien, Kinder und Jugendliche, Migration und Integration, Armut.

  • Unterstützung bei der Entwicklung neuer, innovativer Ideen in der Caritasarbeit

Art und Umfang der Mitarbeit des Fachdienstes Caritas-Koordination werden im Vorfeld mit dem jeweiligen Pastoralteam (schriftlich) vereinbart. Seitens des Pastoralteams wird ein fester Ansprechpartner für den Bereich, „Caritas und Weltverantwortung” benannt.

Mit diesem Pilotprojekt hat das Erzbistum einen neuen Weg eröffnet, um die Grunddimension der Caritas dauerhaft in der Pastoral der Pfarrgemeinde zu verankern und lebendig zu halten. Denn davon ist nicht nur der Bischofsvikar für die Caritas im Erzbistum Paderborn, Weihbischof Manfred Grothe, überzeugt: . „Die Caritas wird die entscheidende Brücke sein, über die Menschen zur Kirche finden und über die Kirche zu den Menschen findet.”

Zusammenwirken von gemeindlicher Pastoral und verbandlicher Caritas

Mitmenschen die leiblichen und geistlichen Werke der Barmherzigkeit zu erweisen ist Aufgabe, jedes Christen, jeder christlichen Gemeinschaft, jeder Pfarrgemeinde, jedes Pastoralverbundes sowie der verbandlich organisierten Caritas“, so steht es in der Präambel der Satzung des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn e.V.( 2006). (18) Der Auftrag ist eindeutig, aber es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis bzw. dem Zusammenwirken von verbandlich organisierter Caritas und einer diakonischen Gemeindepastoral.

Nun galt und gilt immer schon neben dem Territorialprinzip auch das kategoriale Strukturprinzip in der Kirche. So ist Kirche nicht nur im Sozialraum einer Pfarrgemeinde verortet, sondern auch in gesellschaftlichen Teilsystemen wie dem Bildungs-, Gesundheits- oder Sozialwesen präsent und kann dort differenziert und qualifiziert ihren originären Beitrag auf die je spezifischen Herausforderungen und Erwartungen geben. So ist auch die Kirche als ganze in der Moderne „in einen umfassenden Prozess der funktionalen Differenzierung einbezogen, der sie aus der christentümlichen Zentralposition für die Deutung und Gestaltung aller Lebens- und Gesellschaftsbereiche zu einem Teilsystem mit begrenzter Zuständigkeit – für Heiliges, Soziales, letzte Fragen, Kontingenzbewältigung - mit eigener Sprache, Logik und Ethik wandelt.“ (19)

Mit ihrer professionellen „Caritaskirche“ hält sie Anschluss an die Logiken und Ethiken des Sozial- Gesundheits- und Bildungssystems, bleibt in die Wissensgesellschaft hinein kommunikationsfähig, kann ihr Menschenbild in die Kultur und Gesellschaft fördernd und kritisch einbringen und fachlich qualifiziert Hilfe leisten. Wenn die Enzyklika konstatiert, dass „zahlreiche Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und kirchlichen Instanzen entstanden und gewachsen (sind), die sich als fruchtbar erwiesen haben“ (DCE 29b), dann ist damit impliziert, dass diese Formen ihre je eigene Gestalt entwickeln.

Die Forderung nach einer Re-Integration der verbandlichen Caritas in die gemeindliche Pastoral erweist sich vor dem Hintergrund der funktionalen Differenzierungsprozesse nicht nur als massiv unterkomplex gegenüber den Herausforderungen einer pluralen, systemisch differenzierten Gesellschaft. Sie würde Kirche (noch mehr) ins gesellschaftliche Abseits führen und Gemeinden weit überfordern. Die bislang separierten Sektoren der Caritas und Pastoral zu vereinen, erbringt per se keinen wirklichen Zuwachs an christlicher Praxisqualität und dürfte auch nicht automatisch zu einer nachhaltigen diakonischen Inspiration der Gemeindepastoral führen. Vielmehr käme es darauf an,

dass sowohl Gemeindepastoral als auch verbandliche Caritas in ihrem jeweiligen Feld ihre spezifische Gestalt von Caritas weiterentwickeln und sich dabei wechselseitig ergänzen und unterstützen, etwa bei lebensraumorientierten Projekten.

4. Der Lebensraum: Gemeinde in der Verantwortung für das Gemeinwesen

Hier lebe ich. Hier engagiere ich mich.“ – Was auch der Slogan der Kommune oder eines Bürgervereins sein könnte, eignet sich deshalb nicht schlechter auch als ein Leitmotiv für ein lebensräumliches Engagement der Pfarrgemeinde. Damit ist allerdings ein Paradigmenwechsel verbunden, insofern nicht die personale Perspektive des gemeindlichen Binnenraums im Vordergrund steht, sondern der territoriale Lebensraum als solcher die Bezugsgröße für diakonisch-pastorales Handeln ist: das Dorf, das Stadtviertel, das soziale Umfeld. Gemeinde entdeckt für sich gewissermaßen den Anspruch und das Leitbild des Diognet, „Seele der Gesellschaft“ zu sein – diakonisch-pastorale Verantwortung zu übernehmen und – entsprechend den eigenen Kräften und Möglichkeiten und im Verbund mit anderen zivilgesellschaftlichen Kräften – für das Gemeinwesen Verantwortung zu übernehmen und den eigenen Lebensraum (mit) zu prägen. (20)

Strukturen einer Lebensraumorientierten Pastoral

Für die kirchliche Raumordnung kann das bedeuten, dass diese sich weniger an binnenkirchlichen Faktoren der Gemeinden (Zahl verfügbarer Priester, Zahl der Kirchen, finanzieller Selbständigkeit oder Abhängigkeit etc. ), sondern an Lebensräumen orientieren soll. Eine solche raumgerechte Pastoral fragt, welcher pastorale Vorgang nach welchem pastoralen Raum verlangt.

In der Perspektive einer Lebensraumorientierung ergibt sich die Notwendigkeit, Verbündete für das Anliegen zu finden, zivilgesellschaftlichen Kräfte zu mobilisieren und in sozial-caritative Projekte einzubinden.

Unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist bei jedem Projekt und jeder Initiative schon von vornherein mit zu bedenken, wie auf Dauer selbsttragende Effekte erzielt und Verantwortung nach einer Anschubphase auch abgetreten und weiter delegiert werden können (z.B. Trägervereine, Stiftungen etc.), um eigene Mittel, Personen, Strukturen nicht auf Dauer zu binden, sondern Spielraum für neue Projekte zu haben.

Spiritualität des „sehenden Herzens“

Diakonisches Handeln erwächst aus einer spirituellen Haltung: "caritas Christi urget nos" – „Die Liebe Christi drängt uns“ (2 Kor 5,14) und ermöglicht zugleich spirituelles Wachstum: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben“ (1 Joh 3,14). Eine Spiritualität des Helfens entsteht allerdings - in der Regel - nicht von selbst. Diakonisch Handelnde bedürfen vielmehr der geistlich-seelsorglichen Begleitung; dies umso mehr, als sie oft der Erfahrung von Not, Leid, Armut … ausgesetzt sind und existentiell herausgefordert sind, die Lasten anderer (mit)zu tragen und Hilf- und Aussichtlosigkeiten zu ertragen. Zulehner macht für eine solche Spiritualität diakonalen Tuns mehrere Dimensionen aus:

  • eine Spiritualität der offenen Augen: sie schaut hin, wo andere wegschauen.

  • eine Spiritualität des wachen Verstandes: sie hilft nicht nur den Opfern des Unrechts, sondern arbeitet an jenen ungerechten Verhältnissen, die Opfer hervorbringen.

  • eine Spiritualität des mitfühlenden Herzens: Compassion, Mitleiden prägt und beflügelt sie.

  • eine Spiritualität der tatkräftigen Hände: sie packt zu, plant Projekte, macht diese nachhaltig.

Diakonisches Handeln muss sich vom Geistwirken Gottes „in-spirieren“ lassen. Darum muss, wer im Namen und Auftrag der Kirche sozial-caritativ tätig ist, in Wort und Sakrament verwurzelt sein und aus den komplementären Wesensdimensionen von Kirche – leiturgia und martyria/kerygma – leben. Daraus erwächst ihnen Inspiration und Kraft für ihr Engagement, und dort sollen sie die Früchte und Erfahrungen ihres diakonisches Handelns auch wieder einbringen. Dies mag in Tagen geistlicher Einkehr, in Glaubensgesprächs- oder Bibelkreisen … geschehen, in der Beheimatung in sog. Kirchlichen Bewegungen oder Kleinen Geistlichen Gemeinschaften…, vor allem aber in der Feier der Eucharistie: „Diakonales Tun wird in ihr grundgelegt. Das Tun quillt aus dem Sein. … Aus den Ichbesorgten, die sich Christi Leib einverleiben, wird also Leib Christ, randvoll mit dessen liebender Hingabe für das Leben der Welt: bereit zur Fußwaschung. Menschen, die in der eucharistischen Feier tief in Gott eintauchen, können dann hinausgehend gar nicht anders, als diakonal bei den Armen aufzutauchen. Das gilt auch umgekehrt: Wer bei den Armen auftaucht, beginnt schon in Gott einzutauchen (vgl. Mt. 25).“ (21)

Selbstlos, aber absichtsvoll und auftragsgeleitet

Kirchlich-diakonisches Handeln muss sich in der Öffentlichkeit gelegentlich des Verdachts der Indoktrination, der gesellschaftlichen Einflussnahme oder kirchlichen Rekrutierungsabsicht erwehren. Zeitgeistlichem Denken fällt es schwer, an ein selbstloses Tun der Christen zu glauben. Vielmehr wird argwöhnisch gefragt: „Warum tun die das?“ und „Was bezwecken sie damit?“ Dem Argwohn begegnet Papst Benedikt XVI. in aller Deutlichkeit: „Das christliche Liebeshandeln … ist nicht ein Mittel ideologisch gesteuerter Weltveränderung und steht nicht im Dienst weltlicher Strategien, sondern ist hier und jetzt Vergegenwärtigung der Liebe, deren der Mensch immer bedarf“ (DCE 31b). Caritas muss schlicht das sein, was sie ist: Liebe. „Die Liebe ist umsonst; sie wird nicht getan, um andere Ziele zu erreichen“ (DCE 31c).

Das ist auch der Maßstab für das lebensraumliche Engagement der Pfarrgemeinde. Denn in einem recht verstandenen Sinn ist die Arbeit der Kirche gar nicht „absichtslos“ und desinteressiert, sondern auftragsgeleitet. Der Liebe ist es eigen, dass die Liebe gelebt wird, sie will etwas bewegen und verändern. „Liebe wächst durch Liebe“ (DCE 18). „Wer im Namen der Kirche karitativ wirkt, wird niemals dem anderen den Glauben der Kirche aufzudrängen versuchen. Er weiß, dass die Liebe in ihrer Reinheit und Absichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott ist, dem wir glauben und der uns zur Liebe treibt.“ (DCE 31c) Doch wo Menschen zu teilen beginnen, wo die Kleinen und die am Rande Stehenden in die Mitte geholt werden, wo an der sichtbaren Not der Menschen nicht vorbeigegangen wird, wo Jesus in den Schwachen und Armen, wo er im Nächsten gesehen wird, da beginnt das Reich Gottes zu keimen. Das ist die Zielperspektive der Kirche im Großen wie der Pfarrgemeinde bzw. der Seelsorgeeinheit im Kleinen, und dafür lohnt auch jeder Einsatz.

 

Literatur:

Gerhard Lohfink, „Wie hat Jesus Gemeinde gewollt?“ Zur gesellschaftlichen Dimension des Glaubens, Herder Freiburg 1982.

Paul Michael Zulehner, Gemeinde lebt, die liebt. Anmerkungen zum Modell einer diakonischen Pastoral; in: Peter Klasvogt, Heinrich Pompey (Hg.), Liebe bewegt … und verändert die Welt, Bonifatius Paderborn 2008, 142-146.

Deutscher Caritasverband, Beschluss „Eckpunkte Fachdienst Gemeindecaritas, Speyer, 15. Mai 2002.

Klinger, Elmar, Das Volk Gottes auf dem Zweiten Vatikanum. Die Revolution in der Kirche, in: Baldermann, Ingo u. a. (Hg.), Jahrbuch für Biblische Theologie. Band 7: Volk Gottes, Gemeinde und Gesellschaft, Neukirchen-Vluyn 1992, 305-319.

Karl Gabriel, „Wenn Liebe Gestalt gewinnt“. Ekklesiologische, pastorale und sozialethische Implikationen der Enzyklika, in: Peter Klasvogt, Heinrich Pompey (Hg.), Liebe bewegt … und verändert die Welt, Bonifatius Paderborn 2008.

Erwin Gatz (Hg.), Caritas und soziale Dienste. Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Bd. V, Freiburg i. Br. 1997.

Isidor Baumgartner, „Seht, wie sie einander lieben“ Wirkmächtig oder folgenlos? Überlegungen zu einer diakonischen Pastoral; in: Peter Klasvogt, Heinrich Pompey (Hg.), Liebe bewegt … und verändert die Welt, Bonifatius Paderborn 2008, 99-112.

Michael Sievernich, Diaspora und Mission in der religiösen Landschaft der Gegenwart, in: Georg Austen/Günter Riße (Hg.), Zeig draußen, was du drinnen glaubst!.Missionarische Perspektiven einer Diaspora-Kirche, Bonifatius, Paderborn 2009.

Epistola ad Diognetum, Nr. 5-6: Opera patrum apostolicorum, Hg. Funk, Bd. 1 (Tübingen 1881) 317-321.

1 Lohfink (1982), 168.

2 Lohfink (1982), 132.

3 Gabriel (2008), 89.

4 Lohfink (1982), 133.

5 Lohfink (1982), 133.

6 Tertullianus: PL 1, 471.

7Johannes Chrysostomos, Hom. 10,3 ad 1 Tim, PG 62, 551f.

8 Sievernich (2009).

9 Funk (1881) 317-321.

10 Gabriel (2008), 96. Vgl. auch: Gatz (1997).

11 Vgl. zum Folgenden: Baumgartner (2008), 99-112.

12 Baumgartner (2008), 101.

13 Baumgartner(2008), 102. Aus dem im Konzil angesagten Dienst der Kirche an den Menschen, vor allem an denen am Rand, würde nun der Dienst der Menschen an der (Gemeinde-)Kirche. Dies, so Elmar Klinger, sei die pelagianische „Ursünde der nachkonziliaren Kirche in Deutschland“: Klinger (1992), 316.

14 Baumgartner (2008), 104.

15 vgl. Baumgartner (2008), 104f.

16 Vgl. Deutscher Caritasverband, Beschluss „Eckpunkte Fachdienst Gemeindecaritas, Speyer, 15. Mai 2002.

17 Die Eckpunkte Fachdienst Gemeindecaritas konkretisieren Ansprüche aus dem Leitbild und der Satzung des Deutschen Caritasverbandes. Sie orientieren sich an den Grundlagen des Fachbereichs wie den Standardaufgabenfeldern Gemeindecaritas für die diözesane Ebene und der Rahmenstellenbeschreibung Gemeindecaritas für örtliche Caritasverbände (beide 1995).

18 Präambel der Satzung des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn e.V.; 2006.

19 Baumgartner (2008), 106

20 Vgl. zum Folgenden: Zulehner, (2008), 142-146.

21 Zulehner (2008), 144.