| Kirche in WDR 2-5

2. „Der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“

„Mose auf der Spur“

Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer.

Die Stimme, die ihn damals rief, als er total am Ende war, jene Stimme wird Mose wohl Zeit seines Lebens in den Ohren geklungen haben: „Mose! Mose! Zieh die Schuhe aus; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!“ Es ist die Stimme Gottes, die Mose aus dem Brennenden Dornbusch gehört haben will. Mose, der jüdische Adoptivsohn des Pharao, des gottgleichen Herrschers im alten Ägypten - dieser Mose hatte alles aufs Spiel gesetzt: Reichtum, Freiheit, ja sein eigenes Leben, nur um einem einzigen Menschen, einem jüdischen Sklaven, das Leben zu retten. In einem Anflug von Großmut hatte er sich auf die Seite seines gepeinigten und unterdrückten Volkes gestellt und in kalter Wut einen der verhaßten ägyptischen Sklaveraufseher getötet. Doch seine Heldentat blieb nicht geheim - und, was schlimmer war, seine mutige Tat erntete nicht Dank, sondern Verrat, und zwar von eben jenem Hebräer, den Mose gerettet hatte. Die Enttäuschung muß für Mose maßlos gewesen sein: die Enttäuschung über sich selbst: den Überlebenden, der selbst zum Täter, zum Mörder geworden war; die Enttäuschung über den Geretteten, seinen Stammesgenossen, der zum Verräter, zum Denunzianten geworden war ... Am Ende steht nur das blanke Entsetzen, die panische Angst Mose flieht in die Wüste, will endlich zur Ruhe kommen, vergessen. Er heiratet die Tochter eines heidnischen Priesters und wird Schafhirt. Er, der so große Ideale und hochfliegende Pläne hatte, selbstlos und voll guten Willens, er siedelt sich nun in der Mittelmäßigkeit an: eine gescheiterte, eine verkrachte Existenz. Und ausgerechnet hier, am vermeintlichen Ende seines Lebens, macht er die Entdeckung seines Lebens: jene Stimme aus dem Feuer, die ihm zuruft: „der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!" Der Ort eigener Schuld und Versagens, der Ort der Mittelmäßigkeit und innerer  Erschöpfung: genau das ist der Ort, wo Gottes Stimme vernehmbar und seine Nähe spürbar wird.

Für mich ist diese Seite aus dem Alten Testament eines der ganz großen Kapitel der Weltliteratur und eine der tiefgreifendsten Lektionen auch meines eigenen Lebens. Wie oft habe ich nicht für eine gute Sache gekämpft und mich selbst dabei nicht geschont! Und wie tief hat es mich verletzt, wenn ich dann in meinen guten Absichten verkannt wurde, wenn mir Mißtrauen und Ablehnung und Spott entgegengebracht wurde! Undank ist zwar der Welten Lohn ... aber wenn man gerade von denen abgelehnt wird, für die man sich eingesetzt hat ...: das tut weh! Da ist es nur natürlich, wenn man sich Luft verschafft, das Weite sucht, den anderen sich selbst überläßt. „Ihr könnt mich ´mal! - Ich mache nur noch meine Sache. Sollen sie doch sehen, wo sie bleiben, wie sie durchkommen. Ich muß auch mal an mich denken. ...“

Mose in der Wüste: er ist das Paradebeispiel des Verletzten und Verkannten ... und es braucht lange, bis dieser Ärger verraucht, die verletzte Liebe geheilt ist: im Schweigen, im Abstand und seelischen Dunkel. Und genau dies ist der Ort, wo Gott einen Menschen ansprechen, ihn erreichen kann: „Mose, Mose, zieh die Schuhe aus; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!“ Mitten in meiner Schuld, meiner Versagensgeschichte, in meiner verletzten Eitelkeit und selbstgewählten Enge ist es Gott, der mich anspricht, mich auf die Füße stellt, und der mir sagt: „Der Ort, wo du stehst: ist heiliger Boden!“ Solcher Boden unter den Füßen trägt: es ist „heiliger Boden“, und den wünsche ich Ihnen - und mir - für den heutigen Tag.