| Kirche in WDR 2-5

3. planet of visions

Guten Morgen, verehrte Hörerinnen und Hörer. Bevor die EXPO Ende Oktober Ihre Pforten schloß, war ich mit einer Gruppe von Seminaristen noch einmal auf dem Gelände. Das Bild, das sich mir dort eingeprägt hatte, war der schlichte Text auf einer der großen Anzeigetafeln: „Planet of Visions: 4 Stunden Wartezeit“. Gedränge vor dem Pavillon, der Visionen und Einsichten verheißt: Prägnanter kann eine Zeitansage kaum ausfallen. Mich hat diese Anzeige sehr nachdenklich gemacht. Denn während wir im Zeitalter der Beschleunigung leben, in der alles zu jeder Zeit machbar und verfügbar sein muß, warten zig-tausend Menschen Tag für Tag geduldig, bis sie eintreten dürfen in jene Halle, von der sie sich glaubwürdige und tragfähige Perspektiven erwarten.

Die Warteschlange vor diesem säkularen EXPO-Tempel erinnert mich an eine Zeitdiagnose aus ganz anderen Tagen : „In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten; Visionen waren nicht häufig. Aber die Lampe des Herrn war noch nicht erloschen.“ (1 Sam 3,1): Es ist die Zeit des Propheten Samuel - der unseren nicht unähnlich.

Ich erkenne hinter dieser nüchternen Zeitanalyse die bedrückende Erfahrung, die auch uns Heutigen manchmal zu schaffen macht: daß man nicht sieht, wo es lang geht, wie es weiter geht. Es gibt solche Zeiten, wo man Orientierung und Halt braucht und doch auf sich selbst zurückgeworfen ist. Wo man Ausschau hält nach einem rettenden Wort, einer heilsamen Perspektive - und doch im Nebel stochert. Es gibt sie zwar, die Worte Gottes, aber man findet keinen inneren Zugang, sie sagen einem nichts für die eigene Situation. Die Worte des Herrn sind zwar da, aber sie drängen sich nicht auf; sie warten, daß man sie entdeckt, sie an sich heranläßt.

In einer seiner letzten Predigten prägte der Aachener Bischof Hemmerle, selbst schon von Todesnähe gezeichnet, das Wort: „Die Nacht wird immer dichter. Der Herr kommt immer näher“ In einer Zeit, in der Visionen Mangelware sind - damals wie heute - , legt das Samuelbuch nahe, sich näher am Heiligtum aufzuhalten, hineinzuhören in das Dunkel der Nacht. In eine solche Nacht schickt Gott seinen Propheten. Er schickt ihn hinein in das Dunkel seiner Zeit, von der es doch auch heißt, daß die Lampe Gottes noch nicht erloschen war. Samuel hält sich dort auf, wo die Lade Gottes ist, Symbol für seine Gegenwart. Und dort, mitten im Dunkel, in der Unbestimmtheit der Zeit, erreicht ihn das Wort des Herrn. Gott ruft ihn beim Namen; aber es braucht mehrere Anläufe, bis Samuel versteht, was er hört. Bis er hinter den Worten den Rufenden erkennt: daß Gott es ist, der ihn ruft, und daß er wirklich ihn meint. Die Geschichte von der Berufung des jungen Samuel endet schließlich damit, daß der Prophet sich vor Gott aufrichtet und in das Dunkel hinein antwortet: „Rede Herr, dein Diener hört“ - eine Einladung, es ihm gleich zu tun, und von Gott her Perspektive und Orientierung und Auftrag zu empfangen.

Verehrte Hörerinnen und Hörer, vielleicht finden wir uns wieder in der langen Reihe derer, die mit einer Hoffnung unterwegs sind, voller Erwartung auf ein erhellendes Wort und in der Hoffnung, daß sich ein Weg auftut. Auf der EXPO stand man schließlich nach langem geduldigen Anstehen unvermutet an der Pforte zum Paradies. Es ist die Vision, die Gott für uns alle bereit hält: in Erinnerung an das Paradies unterwegs zu sein zu dem Himmel, den er uns schenken will. Ich wünsche Ihnen, daß sich diese Vision als tragfähig und lebenswert erweist: eine Perspektive, die alles Warten und Unterwegssein lohnt.