| Kirche in WDR 2-5

6. „Auf ewig werde ich nicht zuschanden!“

„Mose auf der Spur“

Verehrte Hörerinnen und Hörer.

In den Morgenandachten dieser Woche hat uns Mose begleitet. Wenn man das Leben des Mose wie in einem Film betrachten wollte, so fehlt noch eine letzte Kameraeinstellung, nämlich die alles entscheidende, die Schlußszene, das happy end: endlich anzukommen nach 40 Jahren elender Wanderschaft anzukommen in dem Land, das Gott versprochen hat - anzukommen, um für immer daheim zu sein. Die Israeliten werden schließlich auch hineinziehen und das verheißene Land Kanaan in Besitz nehmen - doch ohne Mose. Mose selbst hat jenes Land nie betreten.

Sie bleibt rätselhaft, die Schlußszene im Leben dieses großen Mannes, sein Lebenswerk, vordergründig betrachtet, ein Torso. Gott läßt ihn zwar heraufsteigen auf den Berg Nebo, er selbst zeigt ihm die ganze Pracht des Landes, die er vor ihm ausbreitet. Hinüberziehen aber wird das Volk mit einem anderen an der Spitze. Mose selbst muß zurückbleiben. Seine Mission war erfüllt. An ihm war es, nun auch selber anzukommen. Auf der Reise seines eigenen Lebens.

Mose tritt hinter Gottes Werk zurück, ganz frei und losgelöst. Er ist ein Mensch, der anerkennt, daß für ihn die Zeit gekommen ist, seine eigene Grenze anzunehmen und sich von allem zu lösen: von den Menschen, die ihm unterwegs so ans Herz gewachsen sind, von den Zielen, die er sich selbst noch einmal gesteckt hat, auch von dem Guten, das er gewirkt hat. Jetzt, an dieser letzten Grenze, bleibt nur noch eines: Gott zu vertrauen, der ihn sein Leben lang geführt hat. „Kostbar ist in den Augen des Herrn das Sterben seiner Frommen“, so heißt es in einem Psalm. Kostbar ist auch jenes letzte Zurückbleiben des Mose: ohne Gram, aber voller Hoffnung.

Annehmen, loslassen, zurückbleiben - das ist eine lebenslange Aufgabe, die sich jedem stellt, ob er sie annehmen will oder letztendlich erleiden muß. Freigeben müssen:

  • die Kinder, die einem entwachsen und schließlich ganz aus dem Haus gehen
  • den Partner, der uns verläßt und eine Leere zurückläßt, die nicht zu füllen ist
  • die kleinen und großen Lebensträume, die über Nacht ausgeträumt sind und die uns zwingen, uns der Wirklichkeit, den Realitäten zu stellen ...

Leben lernen, so hat ein großer Dichter einmal gesagt, heißt immer auch sterben lernen, heißt unterwegs sein: dem verheißenen Lande zu - persönlich, aber auch gemeinsam, als Volk Gottes, wie Mose mit seinem Volk.

Wenn ich an den Tod des Mose denke, steht mir eine Szene vor Augen, die sich mir tief eingeprägt hat: Aachener Dom, Sylvester 1993, der Domchor singt Bruckners „Te Deum“. Und in seiner letzten öffentlichen Predigt greift der damals schon vom Tod gezeichnete Bischof Hemmerle die Schlußworte eben dieses Te Deums auf, jenes gewaltigen Lobgesangs der Kirche, und macht sie sich zu eigen: „In te, Domine, speravi ...“ - „Auf dich, Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt, auf ewig werde ich nicht zuschanden“ Es war gleichsam der Schlußakkord auch seines eigenen Lebens.

Verehrte Hörerinnen und Hörer, daß wir es lernen, so auf Gott zu vertrauen und unseren Weg vor ihm und mit ihm zu gehen, das wünsche ich uns - heute und an allen Tagen.