| Kirche in WDR 2-5

Aufbrechen zu mir selbst

„Bitte laß dich nicht durch mein Gesicht täuschen. Ich mache den Eindruck, als sei ich umgänglich, als sei alles sonnig und heiter in mir, innen wie außen. Aber glaube mir nicht. Beim bloßen Gedanken an meine Schwächen bekomme ich Panik und fürchte mich davor, mich anderen überhaupt auszusetzen. Gerade deshalb erfinde ich verzweifelte Masken, hinter denen ich mich verbergen kann: eine lässige, kluge Fassade, die mir hilft, etwas vorzutäuschen - die mich vor dem wissenden Blick sichert, der mich erkennen würde. Dabei wäre gerade dieser Blick meine Rettung. Und ich weiß es. Wenn es verbunden wäre mit Angenommen-werden, mit Liebe. Das würde mir die Sicherheit geben, die ich mir selbst nicht geben kann. Die Sicherheit, daß ich etwas wert bin.“

Dieser Brief, meine Hörerinnen und Hörer, ist zwanzig Jahre alt und war an mich und einige Studienkollegen gerichtet. Er hat uns damals sehr nachdenklich gestimmt. Mich berührte zutiefst, daß da einer aussprach, was viele von uns ähnlich empfanden: Da hatte einer den Mut, Schwäche zu zeigen und von seiner Sehnsucht zu sprechen: nach Mitgefühl, nach Verstehen, nach Angenommen sein - die Sehnsucht wohl jedes Menschen.

Und gleichzeitig fühlten wir uns überfordert. Wer kann schon einem anderen letzte Sicherheit geben, daß sein Leben gelingt und nicht letztlich ins Leere geht? Wer kann schon einem von sich behaupten, er könne die Schutzmauern der Angst aufbrechen, den anderen herausholen aus aller Einsamkeit und Verlassenheit?

Wenn mir eines in all den Jahren klar geworden ist, dann dies: Ich bin glücklich, mit allen Fasern meiner Existenz daran glauben zu können, daß Gott mich liebt; daß er jeden Menschen erschaffen hat und ihn anschaut mit liebendem Blick.

Die Heilige Schrift sagt es uns; der Geist Gottes flüstert es uns unentwegt ins Ohr: Gott ist Liebe. Vor Ihm hat der Mensch eine unendliche Würde. Er bricht die Mauern meines verschlossenen Herzens auf. Und wo ich mich selbst nicht annehmen kann: Gott kann es. Und er tut es.

Das ist es, was wir auch einander sagen sollten. Auch heute, wenn wir mit anderen Menschen zusammentreffen, wenn Menschen an uns vorübergehen: Menschen, die - vielleicht verschämt - auf einen verstehenden, liebenden Blick warten. Menschen, die insgeheim eben solch einen Brief an uns richten könnten.

„Jedesmal“, so hieß es weiter in jenem Brief, „jedesmal, wenn du freundlich bist und mir Mut machst, wenn du mich zu verstehen suchst, weil du dich wirklich um mich sorgst, bekommt mein Herz Flügel - sehr kleine, brüchige Schwingen, aber Flügel. Dein Mitgefühl und die Kraft des Verstehens machen mich lebendig“

Dies, meine Hörerinnen und Hörer, ist allemal Grund genug für einen guten Tag!