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Gegen das Vergessen

Kolumne

Ein friedliches Bild. In der Dämmerung ein lichter Schimmer über dem Gräbermeer. Rote Lichter, die gegen die Dunkelheit anleuchten. An dem Ort des Todes und der Trauer breitet sich Friede, ewiger Friede aus. Ich meine den Hauptfriedhof unserer Stadt, einer der größten und, wie ich finde, schönsten Friedhofsanlagen in Deutschland: ein Refugium auch für die Lebenden, die sich abseits der Hektik der Innenstadt und dem Lärm der Straße von der lautlosen Macht der ersterbenden Natur einfangen lassen. Denn besonders jetzt im November, dem „Totenmonat“, wenn die Tage kürzer werden und die Natur zu ihrem Winterschlaf ansetzt, drängt sich der Gedanke auch an die eigene Endlichkeit und Vergänglichkeit auf, „Schlafes Bruder“, wie es im Film heißt.

„Wenn ich in ein Land komme, das ich noch nicht kenne“, so sagte mir kürzlich ein Bekannter, „suche ich zunächst die Friedhöfe auf.  Denn wie ein Volk mit seinen Toten umgeht, so geht die Gesellschaft auch mit den Lebenden um.“ Recht hat er. Die Erinnerungskultur einer Gesellschaft verrät auch viel über ihr Menschenbild: den Respekt vor der Würde des einzelnen, seiner Integrität, auch über den Tod hinaus. Da mögen touristische Totenschädelfotos am Kaukasus noch als peinliche Ausrutscher abgetan werden, und Halloween-Parties von dem eigentlichen Ernst der Frage ablenken. Aber verrät der Trend zur anonymen Bestattung nicht vor allem etwas von der großen Einsamkeit, Verlorenheit, Beziehungslosigkeit in unserer Zeit? „Ich habe doch keinen, der an mich denkt:“ Oder: „Ich will meinen Kindern später nicht zur Last fallen.“

Verscharren, Verbrennen, Vergessen. Ein Armutszeugnis. Eine Gesellschaft, die den Tod und die Toten ausgrenzt, bringt sich selbst um die Kraft der Erinnerung und verschließt sich der Ahnung, dass Leben über den Tod hinausgeht. Da sind die brennenden Kerzen auf unseren Friedhöfen so etwas wie eine stille Gegendemonstration: gegen das Vergessen und für die Erinnerung, dass Gott auch denen, die wir möglicherweise vergessen haben, ein Licht, sein Licht aufgehen lässt.