| Anzeiger für die Seelsorge

Pilgern

Kolumne

In seinem „Bericht des Pilgers“ schildert Ignatius von Loyola (1491-1556) die äußerlich und innerlich bewegte Reise seines Lebens: Kriegsverletzung und Krankenlager, Bekehrung und neue geistliche Erfahrung, Pilgerfahrt nach Rom und ins Heilige Land, Inquisitionsprozesse und Untersuchungshaft, Studium und Priesterweihe, Sammlung der ersten Gefährten und Gründung des Jesuitenordens. – Ein wirklich bewegtes Leben voller Widersprüche und Ungereimtheiten, wie wir es vielleicht auch kennen. Ist das Leben, unser Leben, letztlich ein unentwirrbares Knäuel zufälliger Ereignisse und Konstellationen? Sind wir Menschen auf dem Spieltisch der Geschichte wie eine Billardkugel, die zufällig angestoßen mal in die eine, mal in die andere Ecke rollt? Oder zeigt sich in all dem ein roter Faden, ein geheimnisvoller Plan, der erst nach und nach im Laufe der Lebensreise seinen Sinn enthüllt?

Mit dem Titel seines „Berichts“ liefert Ignatius seinerseits bereits eine Deutung seines Lebenswegs, die für ihn selbst jedenfalls absolute Plausibilität besitzt. Was sich in der Unmittelbarkeit des Erlebens oftmals als Laune eines unberechenbaren Schicksals darstellt, ziel- und sinnlose Kehren und Wendungen eines unentwirrbaren Labyrinths, offenbart sich für Ignatius – jedenfalls in der Rückschau – als ein von Gottes Hand liebevoll geführter Pilgerweg, nicht nur für ihn selbst, sondern auch für alle, die durch ihn und seine Gefährten durch die Jahrhunderte den Weg zum Heil finden sollten - zur größeren Ehre Gottes. Großartig, wenn man das so sehen kann; noch großartiger, wenn man das noch zu Lebzeiten erleben und anderen bezeugen darf!

Ist unser irdischer Pilgerweg, glaubt man Ignatius, mit all seinen Irrungen und Wirrungen im Letzten also ein Weg ins Glück? Man möchte daran glauben, und die Kirche selbst versteht sich ja als „pilgerndes Gottesvolk“, das der „ewigen Heimat“ zustrebt, im Bemühen, die Wegmarken in der Zeit im Licht dieses Glaubens zu deuten (vgl. GS 4). Aber da sind auch all die „religiös Unmusikalischen“ (Max Weber), die weltanschaulich Ungebundenen, auf deren Marschroute nicht unbedingt das Ziel irdischer Pilgerschaft verzeichnet ist. Die französische Soziologin Danièle Hervieu-Léger hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass es auch unter den Christen den Typus des „Pilgers“ gibt[1], der „auf der Suche nach dem Geheimnis seines Lebens [...] immer wieder nach religiösen Fundstätten Ausschau [hält]. Seine Verbindlichkeit liegt aber nicht im Verweilen, sondern in der Suche“[2]: Phänotyp des Gläubigen, der nicht (mehr) im Gleichschritt in der Formation der Gläubigen unterwegs ist, sondern selbst als Suchender immer wieder Orte und Zeiten religiöser Orientierung und Vergewisserung aufsucht. „Seine an eine Territorialpfarrei gebundene regelmäßige religiöse Praxis ersetzt er durch mehr oder weniger häufige und regelmäßige Besuche von sogenannten religiösen ‘hauts lieux’ oder ‘moments forts’“[3]. Solche „herausgehobenen Orte und starken Momente“ werden auch heute gesucht und gefunden, auf den Weltjugendtagen und den Gebetstreffen der Taizè–Gemeinschaft, an den „klassischen“ Wallfahrtsorten wie in den neuen geistlichen Gemeinschaften. Bei allen veränderten Sozialformen der Religiosität zeigen sich auch hier die Ankerpunkte geistlicher Pilgerschaft: Spiritualität und Kommunität, geistliche Erfahrungen und verbindliche Gemeinschaften – nicht anders als zu Zeiten eines Ignatius und seiner „compania de Jesu“.

Was sich, vielleicht überraschend, als Zielpunkt postmoderner Pilgerschaft präsentiert, hat seine Wurzeln in einer Suchbewegung der Menschen durch die Jahrhunderte. Denn die Pilger unserer Zeit verweisen auf den Schatz, den die Kirche seit Jahrhunderten durch die Zeiten trägt. Oft sind es gerade jene, die sich an dem fraglos Vorgegebenen, dem Eingefahrenen und Verfestigten stoßen, die zugleich offen sind für das Wehen des Geistes, aber einer Hermeneutik und verstehenden Begleitung bedürfen. Das mag eine heilsame Unruhe auch bei denen auslösen, die allzu selbstsicher und heilsgewiss in ihren Denkmustern, Riten und Traditionen verharren: eine Herausforderung auch für sie, sich selbst wieder bewusst auf den Weg geistlicher Pilgerschaft zu begeben. Denn wer selbst mit einer Hoffnung und einer Verheißung unterwegs ist, wird sich leichter tun, ohne Scheuklappen danach zu fragen, was an Hoffnungspotential auch in dem vordergründig Hoffnungslosen steckt.

 

[1] Le pèlerin et le converti. La religion en mouvement, Paris 1999; deutsch: Pilger und Konvertiten : Religion in Bewegung. (Ergon) Würzburg 2004.
[2] Manfred Scheuer, Predigt zur Priesterweihe von Jesuiten, Innsbruck, 17. September 2016.
[3] Klaus Nientiedt, HK 8/1999, 401.