| Kirche in WDR 2-5

Wort des Lebens

Es war mitten im Zweiten Weltkrieg. Die Alliierten flogen immer wieder Luftangriffe über Trient. Immer wieder heulten die Sirenen, liefen die Menschen in die Luftschutzbunker, saßen sie dichtgedrängt, in Lebensangst, in dunklen, stickigen Kellern. Sie hofften, dass die Flugzeuge darüber hinwegzogen, ohne ihre tödliche Fracht abzuwerfen.

Unter den verschreckten Menschen fanden sich auch einige junge Frauen, deren Habseligkeiten einzig in einer Bibelausgabe bestanden. Alles, was sie hatten - alles, was sie brauchten, waren Worte für das Überleben. Worte, die ihnen bedeuten konnten, wofür es sich zu leben lohnte in diesen verrückten Zeiten.

Und während um sie herum die Menschen verstört oder angstverschreckt auf das Signal zur Entwarnung warteten oder einfach nur apathisch vor sich hinstierten, lasen sie in dem Buch der Bücher und entdeckten, vielleicht zum ersten Mal, dass es sich bei den Evangelien durchweg um Ermutigungen zum Leben handelte. Worte, die Trost und Hoffnung gaben, aus denen man leben konnte. Worte, mit denen man, wenn es so sein sollte, auch sterben konnte. Aber sie machten unter diesen ungewöhnlichen Umständen noch eine andere Entdeckung: Dass man nicht erst lange sinnieren, philosophieren, diskutieren musste, um an den Kern, die Quintessenz zu kommen. Es reichte ein Satz, ein Wort, ein Gedanke aus dem Evangelium, der sich als Devise für den Tag, als Lebensmotto eignete, unmittelbar umzusetzen in den konkreten Begebenheiten des alltäglichen Lebens.

Da war zum Beispiel das Wort, das am Ende des Lebens alles entscheidet: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan„, sagt Jesus. Die jungen Frauen nahmen diese Aufforderung wörtlich. Noch im Bunker, dann in den Feuerpausen, kümmerten sie sich um jene, die ihnen als die Geringen erschienen:

  • Kranke, die ihre Angehörigen verloren hatten,
  • Alte, die sich nicht mehr allein versorgen konnten,
  • Junge, deren Herzen der Krieg stumpf gemacht hatte,
  • Frauen, deren Männer im Krieg geblieben waren,
  • Menschen, die vor den Trümmern ihrer Zukunft standen ...

Es gab so viele Gelegenheiten, ein gutes Wort zu sagen, verständnisvoll zuzuhören, mit Hand anzulegen beim Aufräumen, die wenigen Lebensmittel zu teilen mit denen, die noch weniger hatten...

„Während ich selbst noch mit den Tränen zu kämpfen hatte, packt mich eine Frau und schreit: ‚Drei sind mir umgekommen!‘ Da habe ich begriffen, dass ich nicht bei meinem eigenen Leid stehen bleiben konnte", erinnert sich die heute 81jährige Chiara Lubich, eine jener Frauen der ersten Stunde. Sie schreibt seit über 50 Jahren Monat für Monat einen kleinen Kommentar, eine Anleitung für alle, die weltweit mitmachen, Worte ins Leben zu übertragen.

„Was ihr dem Geringsten meiner Brüder – meiner Schwestern - getan habt“, so Jesus, „das habt ihr mir getan". Es ist die beglückende Erfahrung, einem Gott zu begegnen, der zu uns auf Tuchfühlung geht. Nicht nur in Krisen und Kriegszeiten. Auch heute. In jedem Menschen.

Ende der Kurzfassung

Vielleicht ist man in Zeiten der Dunkelheit empfänglicher für das Licht, in der Todesgefahr sensibler für wahres, nicht vergängliches Leben. Für jene Frauen wurden so, mitten in den Wirren des Krieges, jene Worte, die sie im staubigen Bunker in den alten Büchern lasen, durch das persönliche Leben angereichert, ausgeleuchtet, in ihrer Tiefe verstanden - und weiter erzählt. Diese Worte, so erlebten sie, haben eine verwandelnde Kraft, weil es dem Leben, dem Lieben und Leiden, einen Sinn gibt. Und so haben sie selbstverständlich weitergemacht, als der Krieg aus war, als so viel in Schutt und Trümmern lag, als angefasst, aufgeräumt, beigestanden werden musste. Auch als dann bessere Zeiten kamen, haben sie von dieser Lebenspraxis nicht wieder gelassen. Was in Trümmern begann, führte letztlich zu einer Initialzündung, einer weltweiten Bewegung: Das Wort wird Leben. „Was ihr den Geringsten meiner Brüder / meiner Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan„. Verehrte Hörerinnen und Hörer, ich lade sie ein, dieses Wort einfach mitzuleben: Heute, für einen Tag - und vielleicht darüber hinaus, ein ganzes Leben lang. Nicht auszuschließen, dass Sie dabei gleichfalls innere Erfüllung, Glaubensgewissheit, Lebensfreude finden. Ich wünsche es Ihnen.