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HERRLICH HARMLOS?

Kolumne

Endlich wieder Karneval! Herrlich harmlos, sollte man meinen. Da wird gesungen und getrunken, geschunkelt und gemunkelt, getanzt und gelacht. Einmal im Jahr sich wie Kinder verkleiden, ohne dass es kindisch wäre. Einmal andere auf die Schippe nehmen, ohne ihnen böse zu sein. Einmal im Leben sich als Hexe verkleiden, im Bischofskostüm herumlaufen oder ganz traditionell mit Narrenkappe und Uniform anderen die Meinung geigen. Karneval war ja schon immer auch Protest, wenn man etwa die Besatzungstruppen im Rheinland parodierte, sich über sie lustig machte - mit Tschingderassabum, mit Marsch- und Uniform-Tamtam und Orden wider den tierischen Ernst. Ausgelassen harmlos, aber doch nicht arglos und auch nicht unpolitisch, denn in den Sitzungen der Karnevalsvereine werden auch heute Missstände aufgespießt und Fehltritte all der Möchtegern-Mächtigen lächerlich gemacht.

So dürften auch heute wieder zigtausende am Straßenrand stehen, wenn „dr Zoch kütt“. In ausgelassener Stimmung werden da die Persiflage-Wagen bejubelt, die mal bissig, mal lustig die aktuelle gesellschaftliche Lage aufs Korn nehmen. Über manches kann man ja auch schmunzeln, wenn etwa Elon Musk mit weißer Katze und goldenem Colt als Bond-Bösewicht daherkommt, ein Eisbär auf einer schmelzenden Scholle Klima-Kleber verramscht oder ein kleiner Wirtschaftsminister vor einem Riesen-Scheich einen tiefen Diener macht.

Doch wie könnten wir da lachen, wenn etwa auf einem Wagen ein blutrünstiger Putin erscheint, der die Welt durch den Fleischwolf dreht, während im Donbas in einem irrsinnigen Angriffskrieg Tag für Tag Menschen sterben? Wie könnten wir Witzchen machen über einen türkischen Präsidenten, der nur Stunden nach dem verheerenden Erdbeben betroffene Kurdengebiete in Syrien bombardiert? Da fahren die Gefühle „Achterbahn“: Lachen oder Weinen? Feiern oder Trauern? Die Ungleichzeitigkeit von Erfreulichem und Bedrückendem ist nur schwer zu ertragen und fordert dazu heraus, sich ganz darauf einzulassen, was einen im Augenblick emotional bewegt: „sich mit den Fröhlichen freuen und mit den Weinenden weinen“ (vgl. Röm 12,15). Insofern ist Karneval keinesfalls so harmlos, wie es scheint, und auch angesichts von Leid und Tod, das lernen wir vielleicht von unseren jüdischen Mitbürgern, können wir das Leben feiern: „Le Chaim“, wie auf Hebräisch ein Trink- und Segensspruch lautet: „Auf das Leben!“

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Was bleibt?

Kolumne

Was bleibt vom Glanz der Weihnacht, wenn die Lichterketten wieder abgeräumt, die Krippen eingepackt, die heiligen drei Könige wieder abgezogen sind? In Dortmund steht von dem stolzen Weihnachtsbaum nur noch das stählerne Gerippe, und selbst das orthodoxe Weihnachtsfest hat es nicht vermocht, den leidgeprüften Menschen in der Ukraine „ein bisschen Frieden“ zu verschaffen. Aber auch wenn wir uns vergleichsweise unbeschadet von den großen Dramen der Geschichte in geschützten Räumen und gesicherten Verhältnissen bewegen: Was bleibt von all den Festen und Feiern, den Treueschwüren und Liebeserklärungen? Was sind sie wert, wenn Gewöhnung und Abnutzung schon bald die Erinnerung an das kleine Glück vergessen lassen, die Momente stillen Einvernehmens und den Zustand innerer Zufriedenheit? „Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!" (Nietzsche), so mögen wir begehren und müssen doch akzeptieren, den Glanz des Augenblicks nicht festhalten, nicht konservieren zu können.

Vor Jahren lief auf der Berlinale ein preisgekrönter Film über ein harmonisches Familienwochenende, so war es jedenfalls geplant; doch wie auch im wirklichen Leben bekam die glänzende Fassade der kultivierten Bürgerlichkeit alsbald Risse, allen Bemühungen zum Trotz, den schönen Schein aufrecht zu erhalten. „Was bleibt“, so der Filmtitel, der Frage und Antwort zugleich ist. Was bleibt von all den Sehnsüchten nach einer gelungenen Beziehung, von dem Bemühen um Harmonie und der Bewahrung des familiären Friedens, wenigstens für ein paar Stunden? Tiefste Geborgenheit und tiefste Verunsicherung. In dem Film wird nach und nach aufgedeckt, was lange unter den Teppich gekehrt wurde. Nachdem man zu lange geschwiegen hatte, brechen die Wunden und Verletzungen auf, die man sich gegenseitig zugefügt hat, oft ohne es zu wollen. Was bleibt, wenn auch das, was man liebt, sich entzieht?

Jener Glanz des Augenblicks, der beglückenden Erkenntnis, der freudigen Erwartung - nur eine Illusion? Nicht ganz, so möchte man dagegenhalten. Denn was ich erfahren, gelebt, geliebt habe, das bleibt. Das kann mir keiner nehmen. Und auch die Hoffnung, dass morgen besser ist als heute, der Glaube an eine bessere Welt und das Bemühen, alles dafür in die Waagschale zu werfen: wer wollte bestreiten, dass darin nicht bereits ein verborgenes Leuchten liegt. Denn wer liebt, hinterlässt eine Spur des Lichts, und der der Lichtglanz, der von uns ausgeht, wird auch unseren eigenen Weg erhellen. Gott sei Dank!

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One Love

Kolumne

Ob die Erfinder der umstrittenen Liebes-Binde in Katar wohl an Bob Marleys Song „One love, one heart“ gedacht haben? 1965 landete der Jamaikaner mit den wilden Rasterlocken seinen ersten großen Hit, frei übersetzt: „ein Herz und eine Seele“. Das war auch das Motto der ersten Christen, und Bob Marley, der auf der Karibikinsel seine spirituelle Heimat hatte, war von dieser göttlichen Liebe, die jeden Menschen erreicht, zutiefst angetan; jeder Mensch ist liebenswert und liebenswürdig, ohne Ausnahme und ohne jede Bedingung. „One love, one heart“. Wer geliebt ist, der kann auch lieben; der kann diese Liebe weitergeben und so Gemeinschaft stiften: „Liebe deinen Nächsten, er ist wie du“ (Lev 19,18), unabhängig davon, ob einer Christ oder Moslem ist, katarischer Emir, Fifa-Funktionär oder Angehöriger der LGBTQ-Community.

Angesichts der erschütternden Exzesse von Hass und Gewalt, wie wir ihn zur Zeit in der Ukraine erleben, und vorher und immer noch in Syrien, im Yemen in Äthiopien …, ist die Botschaft jener verhinderten One love-Kapitänsbinde mehr als nur ein stummer Protest gegen autoritäre Gewalt, mehr als nur die Parteinahme für die „freie Liebe“ in einem totalitären Staat. Bob Marley hatte mit seinem Reggae Song genau daran erinnert, dass wir Menschen für die Liebe geschaffen sind, für Freundschaft und Verbundenheit: „Let′s get together and feel all right” – Zusammenzukommen, miteinander in Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbunden sein, über alle Grenzen hinweg, das fühlt sich nicht nur gut an, darin drückt sich jene universale Geschwisterlichkeit aus, die die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in der Welt ist.

Unsere deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat diesbezüglich ein medienwirksames Zeichen gesetzt, dass sie sich nicht den Mund verbieten lässt. Aber vielleicht mehr noch, indem sie über fünf Jahre mit einer Million Euro ein SOS-Kinderdorf in Nepal unterstützt, in Solidarität mit den hunderttausenden Gastarbeitern, insbesondere aus Nepal und Indien, die als Arbeitssklaven auf den Baustellen in Katar gelebt haben: „One love, one heart“- So gelingt es, etwas von dem zurückzugeben, was man selbst erhalten und so selbstverständlich in Anspruch genommen hat. Dazu passt dann auch der Refrain in dem Song, mit dem Bob Marley immer wieder dazu auffordert, „Gott, dem Herrn, zu danken und ihn zu preisen. Denn das fühlt sich wirklich gut an.“

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Vorboten der Hoffnung

Kolumne

Noch sind Pfifferlinge und Federweißer nicht aus den Regalen im Supermarkt verschwunden, da zeigen sich mit Spekulatius, Stollen und Adventskalendern bereits die Vorboten künftiger Festlichkeit an. Es ist halt nie zu früh, an Weihnachten zu denken. Das sagt sich offensichtlich auch der Einzelhandel, der mit Sorge auf die Haushaltslage und die drohende Rezession blickt. Wird dann bei der steigenden Inflation, den hohen Wohn- und Lebenshaltungskosten noch genug Geld im Portemonnaie der Kunden sein? Das gefürchtete Wort von „Wohlstandsverlusten“, das mittlerweile die Runde macht, könnte die Sorgenfalten mancher Kunden vertiefen und den Händlern das herbeigesehnte Weihnachtsgeschäft vergällen. So hatte sich die wirtschafts- und kapitalismuskritische Degrowth-Bewegung die Abkehr vom Wirtschaftswachstum wohl eher nicht vorgestellt. Denn das Hohelied des Konsumverzichts klingt reichlich zynisch, wenn Menschen hierzulande ihre Wohnung nicht mehr heizen können, Werktätige um ihren Arbeitsplatz fürchten und Tafeln den Andrang nicht mehr bewältigen. In wirtschaftlich prosperierenden Zeiten lässt sich trefflich darüber streiten, ob die globalen sozialen und ökologischen Krisen, wie spekuliert wird, nur durch ein Schrumpfen der Wirtschaft gelöst werden können. Aber wenn die (Welt)Wirtschaft ins Stocken gerät, ausgelöst durch eine weltweite Pandemie und verstärkt durch einen russischen Angriffskrieg, dann sind die Folgen für jeden einzelnen unmittelbar zu spüren – bei uns im einigermaßen wohlstandsgesättigten Deutschland, aber vor allem im globalen Süden, wo man derzeit von über 800 Millionen Hunger leidenden Menschen spricht. Menschen in Cherson, Lyman oder Charkiw, die nicht wissen, wie sie durch den Winter kommen; Menschen in Somalia, mit ihren Kindern auf der Flucht vor der Dürre, die ihnen alle Lebensgrundlagen genommen hat; verzweifelte Menschen in Pakistan, die um Leib und Leben fürchten und in den Fluten alles verloren haben … All die Bilder, die uns täglich frei Haus geliefert werden, lassen uns womöglich etwas bescheidener an die Engpässe und Bedrängnisse hierzulande denken.

Machen wir uns nichts vor: Da wird das Geld für manche Anschaffung nicht reichen, und manches Weihnachtsgeschenk wird möglicherweise (kleiner) ausfallen. Aber einen Adventskalender, der jetzt ja schon angeboten wird: den sollten wir uns dann doch gönnen. Er mag uns daran erinnern, dass wir mit einer Hoffnung unterwegs sind – und mit einer Verheißung: dass sich auch für uns immer wieder neue Türen öffnen; Türen, die wir auch anderen öffnen können, Tag für Tag. Dass sich immer wieder neue Wege auftun, die dazu einladen, auf ihnen zu gehen, zueinander und miteinander. Ein solcher Adventskalender gibt mir jedenfalls und all meinen Gehversuchen eine Zielperspektive: dem entgegen, der bereits auf uns zukommt – Licht im Dunkel und Kraft aus der Höhe. Ja es stimmt, jedenfalls in diesem Sinn: Es ist nie zu früh, an Weihnachten zu denken.

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Können wir Krise?

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Können wir Krise? Wir haben schon so manche Krise überstanden, allein oder alle miteinander. Keine Frage: wir sind krisenerprobt und krisenbewährt. Aber was sich da momentan zusammenbraut, stellt alles Dagewesene noch in den Schatten. Die explodierenden „Nebenkosten“ (wenn nicht gar „Hauptkosten“) werden nicht wenige in den finanziellen Ruin treiben; die einen sehen mit Schrecken, wie die Rücklagen schmelzen, das mühsam Ersparte; andere müssen sich sorgen, dass ihnen alsbald der Strom abgestellt wird. Und da ist von gestiegenen Lebensmittelpreisen, Handwerkerrechnungen, Lieferengpässen etc. noch gar nicht die Rede. Deutschland im Krisenherbst 2022. Wer hätte das noch zu Jahresbeginn gedacht!

Und es stimmt ja, die anderen Krisen sind deswegen nicht weg: der erbarmungslose Stellungskrieg in der Ukraine (wer redet noch von Syrien?), die bedenklich ansteigenden Fallzahlen in der Corona-Krise, die weiterhin drohende Klimakatastrophe mit all ihren Begleiterscheinungen, ob Dürren, Überflutungen, Tornados, Brände … Es ist gerade ein bisschen viel, was da alles an Krisen zusammenkommt.

Also noch einmal gefragt: Können wir Krise? Wenn ich nur in mein unmittelbares Umfeld schaue, dann meine ich: ja, wir können das. Als im Corona-Lockdown die Geschäfte geschlossen waren, hat einer meiner Mitarbeiter seiner Friseurin den doppelten Preis bezahlt. Einfach so. Weil er es konnte. - Ein anderer Kollege ist mit seinem Hänger ins Ahrtal gefahren, um in der Flutkatastrophe Aufbauarbeit zu leisten. Er hat es einfach getan. Weil er es konnte. – Von einer Nachbarin hörte ich, dass sie Geld für die Opfer eines Wirbelsturms überwiesen hat. Ohne darum gebeten worden zu sein. Sie tat es, weil sie es konnte. - Und Irene (Name geändert), eine junge Frau, Koordinatorin unserer Jugendbewegung in der Ukraine, hat nach Kriegsausbruch erst ihre Familie in Sicherheit gebracht und fährt seitdem an die Front, um den Soldaten Lebensmittel und Medikamente zu bringen. Sie riskiert dabei ihr Leben. Weil es ihr richtig erscheint. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Sie bestärkt mich in dem Glauben: Wir können Krise, weil es Menschen gibt, die einfach tun, was sie können; die mit anderen solidarisch sind, nicht weil sie es müssen, sondern weil sie es können – und weil es ihnen wichtig ist. „Was wir jetzt brauchen, ist die Chance, uns zu verändern, Raum für das zu schaffen, was jetzt nottut“, schrieb Papst Franziskus mitten in der Corona-Krise. Und: „Aus der Krise können wir besser oder schlechter hervorgehen.“ – Also dann doch lieber: besser!

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Dortmund trauert

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Dortmund trauert. Am Donnerstagabend kam die Nachricht über den Ticker: Natala, das älteste Nashorn Europas, ist gestorben. Auch wenn Natala mit einem Lebendgewicht von rd. 2 t nicht gerade ein Streicheltier zum Anfassen war, wird manch einer, der die "Nashorn-Oma" bei Besuchen im Dortmunder Zoo liebgewonnen hat, mit Wehmut an sie denken. Ich bedaure im Nachhinein, Natala zu ihren Lebzeiten nicht persönlich in Augenschein genommen zu haben. Doch erinnert mich an vielen Stellen der Stadt ihr Portrait daran, dass die äußere Erscheinung, wie ja auch uns Menschen, mitunter darüber hinwegtäuscht, was sich hinter der Fassade an Fähigkeiten und Fertigkeiten verbirgt.

Insofern war es eine geniale Idee des Dortmunder Konzerthaus-Marketings, auf die Besonderheiten und Qualitäten ausgerechnet eines Breitmaulnashorns hinzuweisen, die dem Auge des Betrachters zumeist verborgen bleiben. Denn das Rhinozeros verfügt nicht nur über einen hervorragenden Geruchssinn und kann über Hunderte Meter hinweg Witterung aufnehmen; es kann auch seine Ohren unabhängig voneinander bewegen und mit seinem exzellenten Gehör kilometerweit Infraschall-Laute erfassen, die wir Menschen als Vibrationen empfinden.

Daran muss ich oft denken, wenn ich an einer dieser lebensgroßen Nashorn-Skulpturen in der Innenstadt vorbeikomme: dass es doch auch bei uns Menschen nicht unbedingt auf das Äußere ankommt (was nicht bedeutet, sich nicht um ein kultiviertes Aussehen und Auftreten zu bemühen), sondern auf innere Werte: auf die Sensibilität für den anderen; auf das seismographische Gespür für atmosphärische Stimmungen und gesellschaftliche Veränderungen; auf die Fähigkeit, nicht sofort loszupoltern, sondern genauer hinzuhören und auf Störungen einzugehen… Was wäre das für ein zivilisatorischer Fortschritt, wenn es in Politik und Gesellschaft, aber auch im alltäglichen Miteinander nicht auf Machtspiele und Platzhirschmentalität ankäme, auf Imponiergehabe und testosterongesteuertes Dominanzverhalten, sondern auf ein ehrlich bemühtes Wahrnehmen der Wirklichkeit, ein feinfühliges Interesse an Prozessen und Entwicklungen.

Natala wird das alles gleichgültig gewesen sein. Doch nicht der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, sondern das feinfühlige geflügelte Nashorn hat es mir angetan. Denn wer sich auf jene inneren Werte besinnt, dem wachsen gewissermaßen Flügel, so wie dem Dortmunder Wappentier. Dann mag es auch gelingen, sich immer wieder all des Belastenden und Bedrückenden zu entledigen, sich bei allem, was einen niederdrückt, jene Leichtigkeit zu bewahren, um abzuheben, sich des Kleinkrams des Alltäglichen und jeglicher Kleingeisterei des nur vordergründig Verrechenbaren zu entheben und vertrauensvoll nach vorne zu schauen. Himmelwärts!

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Sag immer die Wahrheit!

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Die Bilder waren nur schwer erträglich: da sieht man inmitten der landesweit ausgestrahlten Osterliturgie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale den russischen Präsidenten, jenen menschenverachtenden Kriegstreiber, der über Leichen geht, wie er inmitten der göttlichen Liturgie andächtig eine rote Kerze in der Hand hält, sich immer wieder bekreuzigt und dem Patriarchen Kyrill I. zum Abschluss ein kostbar verziertes Osterei überreicht. Wie zum Hohn muss es klingen, wenn Putin dem Patriarchen zu diesem „bedeutenden Feiertag“ gratuliert und zum Ausdruck bringt, dass dieses Osterfest „in den Menschen die hellsten Gefühle, den Glauben an den Sieg des Lebens, des Guten und der Gerechtigkeit“ weckt. Und während die orthodoxe Osterliturgie den Sieg des Lebens über den Tod verkündet, setzt Russland mit unverminderter Härte seine Großoffensive im Osten und Süden der Ukraine fort. Shame on you!

Es ist bitter, wenn der oberste Repräsentant der russisch-orthodoxen Kirche von dem “großen Sieg unseres Erlösers über die Sünde, über den Fluch, über den Tod“ spricht, ohne auch nur das Leiden und Sterben der Menschen in der Ukraine zu erwähnen, und stattdessen die Gläubigen dazu aufruft, von der «absoluten Gewissheit des endgültigen Sieges der Wahrheit» überzeugt zu sein. Das erinnert fatal an den Sarkasmus eines Pilatus, der dem gefolterten Jesus gegenüber abschätzig bemerkt: „Was ist Wahrheit“ – ganz so, als ob die herrschende Wahrheit immer die Wahrheit der Herrschenden sei.

Sag immer die Wahrheit“, so lautet das Lebensmotto des mittlerweile hochbetagten Benjamin Ferencz, der einst hinter den Frontlinien des Zweiten Weltkriegs und in den befreiten Konzentrationslagern wegen Kriegsverbrechen ermittelt und als Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen genau diese oft so verborgene und verbogene Wahrheit aufgedeckt hat. So wird auch eines Tages die ganze Wahrheit über die Gräueltaten der russischen Invasoren ans Licht kommen, und ich bin sicher: Es gibt eine letzte Wahrheit, vor der sich jeder Mensch einmal für sein Tun verantworten muss und nach seinen Taten gerichtet wird. Denn auch das gehört zur Wahrheit der Osterbotschaft, wie wir sie im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, lesen können: „Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offb 21,3). Daran glaube ich.

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Wenn es drauf ankommt, sind wir da!

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Von „Zeitenwende“ ist in diesen Tagen viel die Rede, nicht nur in geopolitischer Hinsicht. Auch in der Gesellschaft vollzieht sich ein Bewusstseinswandel. Alte Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten schwinden, die Unbeschwertheit und Selbstzufriedenheit unserer Wohlstandsgesellschaft verflüchtigt sich. Wenn selbst Rosenmontagszüge zu Friedensdemonstrationen werden, dann offenbart das eine neue Ernsthaftigkeit, auch im gesellschaftlichen Miteinander. Noch 2014, nach der Annexion der Krim, mahnte der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch auf der Internationalen Buchmesse in Wien: „Europa hat in seiner absolut erfolgreichen Entwicklung das Endziel erreicht, es ist vor allem zu einer Zone des Wohlstands, Komforts und der Sicherheit geworden, oversecured, overprotected, overregulated, ein Territorium aufgeblähter und irgendwie beigelegter Probleme und Konflikte, politisch korrekt und steril. In der Ukraine aber wird Blut vergossen, und das ist noch milde ausgedrückt.“  (19.11.2014)

Man meint noch die tiefsitzende Enttäuschung Andruchowytschs herauszuhören angesichts der Zögerlichkeit des Westens, sich für die Werte Europas einzusetzen: für Frieden und Freiheit, für die Integrität der Person und die Unverletzlichkeit der Grenzen. Das hat sich allerdings geändert, seit unser „Gemeinsames Haus Europa“, wie der damalige russische Präsident Michail Gorbatschow es nannte (,,Evropa, naš obščij dom“), von einem seiner Nachfolger mutwillig angegriffen und in Brand gesetzt wird. Die Bilder zerbombter Städte, das Leid all derer, die in ungeheizten Kellern Schutz suchen, ohne Nahrungsmittel, Wasser und Medikamente, nicht zu reden von den Millionen Frauen, Kindern und alten Menschen auf der Flucht – all das rührt uns zutiefst und führt bei aller gefühlten Ohnmacht und Hilflosigkeit zu einer unglaublichen Welle der Solidarität, der konkreten Hilfs- und Spendenbereitschaft: Menschen, die ihre Häuser und Wohnungen für Geflüchtete öffnen, die Hilfsgüter sammeln und an die polnisch-ukrainische Grenze bringen, die in zahllosen Initiativen protestieren und mit ihren Gebeten den Himmel bestürmen. Und die es hinnehmen, dass hier bei uns die Energiepreise steigen, es zu einem weiteren Einbruch der Wirtschaft kommt, dass wir auch weiterhin mit Einschränkungen werden leben müssen. Auch das ist der Preis der Freiheit: dass das Bekenntnis zu unseren Werten uns etwas kostet. Doch wenn es drauf ankommt, sind wir da: ob bei der Flüchtlingswelle 2015, dem Ausbruch der Corona- Pandemie oder der Flutkatastrophe im Ahrtal. Darauf dürfen wir, bei aller Begrenztheit, auch ein wenig stolz sein.

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Abstimmung mit den Füßen

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„Nicht meine Kirche“, so denken viele, die in diesen Tagen aus der Kirche austreten. Ich kann sie verstehen. Die immer neuen Enthüllungen von Missbrauchsfällen, die schleppende Aufarbeitung, der beschämende Umgang mit den Betroffenen… all das erschüttert und entsetzt, gerade weil es so diametral all dem entgegensteht, wofür Kirche eigentlich steht: dass Menschsein gelingt unter den Augen Gottes, dass jeder Mensch eine unhintergehbare Würde besitzt, dass die Güter dieser Erde gerecht verteilt werden und wir darauf hoffen dürfen, dass wir das Leben nicht allein zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt.

Dass ausgerechnet Seelsorgende, unterwegs im Namen der Kirche, so unsägliches Leid über ihnen Schutzbefohlene gebracht haben, macht mich fassungslos – wie auch all jene, die sich heute in den Pfarreien und kirchlichen Einrichtungen in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen und sich für Nächstenliebe, für Gerechtigkeit und das Wohl anderer einsetzen. So skandalös die mittlerweile bekannten Vorgänge auch sind, so notwendig ist es doch gerade auch heute, dass die Liebe gelebt wird und Menschen einstehen für die Hoffnung, die ihnen der Glaube gibt.  

Auch wenn es mich bedrückt und ich mich schäme für alles, was da an dunklen Machenschaften ans Licht kommt: Es ist auch weiterhin meine Kirche, und ich weiß, dass meine Kirche mich braucht. Gerade jetzt. Nicht weil ich wegschaue oder das, was geschehen ist, ignoriere oder relativiere. Ganz im Gegenteil: weil es gerade jetzt Menschen braucht, die sich mit ganzer Kraft für das Evangelium einsetzen und Prozesse der Erneuerung in der Kirche in Gang bringe, in Rückbindung an ihren Ursprung: dass sie dem entspricht, was ihr ursprünglicher Auftrag ist.  

Die Synodale Versammlung, die Ende letzter Woche getagt hat, bringt dazu ein ganzes Reformpaket auf den Weg: „Wir wollen, dass Macht in der Kirche geteilt wird, dass Macht kontrolliert wird, dass Macht nicht mehr in Händen Einzelner liegt, sondern von vielen getragen wird. Wir wollen, dass Frauen in Dienste und Ämter der Kirche aufgenommen werden können. Dass gleiche Rechte, gleiche Würde von Frauen und Männern in der Kirche gelten. Wir wollen, dass die Geschlechterdifferenz, die es gibt, auch die Geschlechtervielfalt, die es gibt, Akzeptanz findet in der katholischen Kirche.“ (Bischof Georg Bätzing) Man mag einwenden, das sei längst überfällig, aber umso wichtiger ist doch, dass dies jetzt konkret vor Ort umgesetzt wird; und bei manchem wird Papst Franziskus froh sein, dass die katholische Kirche in Deutschland hinter ihm steht, wenn es um den Reformprozess in der Weltkirche geht. Abstimmung mit den Füßen: das kann auch bedeuten: zusammenzukommen und gemeinsam die neuen Wege beschreiten, auf die uns der Geist Gottes heute führen will. Ich jedenfalls bin dabei. Trotz allem.

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Weihnachts-Posting

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Weihnachtspost. Alle Jahre wieder. Auch wenn wir den Rest des Jahres weithin über Social Media – Kanäle miteinander kommunizieren, per E-Mail oder SMS, auf WhatsApp oder Instagram … Zu Weihnachten muss es Briefpost sein; kunstvoll bedruckte Weihnachtskarten, mit einem persönlichen Gruß, gern auch originell verpackt oder von Hand bemalt. Etwas, das man in den Händen halten, das man aufbewahren kann: gleichsam um sich zu vergewissern: Weihnachten findet statt, wie jedes Jahr, mit Weihnachtsbaum und Geschenken, der Krippe und den alten Liedern. Es ist der Tag, jedenfalls bei uns, an dem die Familie zusammenkommt, und sei es auch nur für ein paar Stunden, zu fröhlicher Bescherung und festlichem Essen – im besten Fall. Auch wenn das Religiöse in unserem Alltag immer weniger eine Rolle spielt und vielen Zeitgenossen der christliche Glaube mit den Jahren irgendwie abhanden gekommen ist: Weihnachten ist ein Fixpunkt im Rhythmus des Jahres, ein Markstein im gleichmäßig dahinfließenden Strom der Zeit. Erinnerung an längst verblasste Kindertage, irgendwie aus der Zeit gefallen, und doch ein Wink „von oben“, der dem Leben Richtung weist.    

Mich hat dieser Tage dann doch ein digitaler Weihnachtsgruß erreicht: von Dom Bernardo, einem deutschen Franziskaner, der in den Weiten des Amazonas dort Bischof ist. In seiner E-Mail das Foto einer Krippe, aufgestellt in einem Krankenhaus. Das Kind liegt da in einer Hängematte, wie es in den Hütten dort üblich ist. Frei Mariano, ein Franziskanerbruder, der diese Krippe gestaltet hat, ist im vergangenen Jahr an Covid 19 verstorben. Wie so viele, die sich eingesetzt haben, um das Leben anderer zu retten. Die Krippe, Botschaft gottgeschenkten neuen Lebens, erinnert so zugleich an die vielen Toten, aber auch an alle, die sich immer wieder für andere eingesetzt und sich um sie gekümmert haben. Leben und Tod – beides haben wir nicht „im Griff“. Dass sich neues Leben schenkt: es ist ein Wunder! Dass das Leben vergeht, hinüberwächst ins himmlische Weihachten: Vollendung.

Jene Weihnachtspost vom breiten Strom, dem Amazonas: Mich erinnert sie daran, dass gerade auch in den Dunkelzeiten dieser Tage, gezeichnet von Corona und der Ungewissheit, was mit der Omikron-Variante noch alles auf uns zukommt, unser Leben geschenkt und zugleich begrenzt ist. Aber in der Botschaft von Weihnachten liegt doch auch ein Zauber, dass unser Leben – von Anfang bis Ende – in Gottes Hand liegt. Für mich ist es bei aller Unübersichtlichkeit etwas Tröstliches und Befreiendes. Es verleiht dem gegenwärtigen Augenblick etwas von jenem Glanz der Weihnacht. Möge sie hineinleuchten auch weit in das neue Jahr!

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